heute in hamburg
: „Demokratie braucht radikale Vielfalt“

Buchvorstellung „Gegenwartsbewältigung“ und Podiumsdiskussion: 20 Uhr, Kampnagel, Eintritt 8 Euro. Liveübertragung auf dem Youtube-Kanal von Kampnagel

Interview Paula Bäurich

taz: Herr Czollek, was haben Sie gegen Integration?

Max Czollek: Integration vermittelt eine veraltete Vorstellung davon, wie Gesellschaft funktioniert: als ein Ort mit einem dominanten Zentrum, in das sich alle anderen hineinbegeben müssen.

Tut unsere Gesellschaft momentan genug dafür, dass sich alle zu Hause fühlen?

Unsere Gesellschaft ist derzeit eine Gesellschaft der Ungleichzeitigkeit. Es passieren einerseits Dinge in Zivilgesellschaft und Kultur, die sich bereits auf Augenhöhe mit der pluralen Demokratie und ihrer radikalen Vielfalt befinden. Gleichzeitig herrschen weiterhin paradigmatische politische Konzepte wie Integration oder Leitkultur vor, die dieser Demokratie nicht gerecht werden.

Wie stellen Sie sich eine plurale oder diverse Gesellschaft vor?

Darauf gibt es eine kurze und eine lange Antwort. Die kurze ist: Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, die alle schützt und nicht nur manche und in der man ohne Angst verschieden sein kann. Für die lange Antwort würde ich auf die Arbeiten des Instituts für Social Justice und Radical Diversity verweisen, von dem ich ein Teil bin.

Welche Rolle spielt eine diverse Gesellschaft für eine funktionierende Demokratie?

Foto: Konstantin Boerner

Max Czollek, 33, ist Lyriker, Essayist und Kurator der Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur.

Ich würde die Frage umdrehen und sagen, dass eine plurale Demokratie auf der radikalen Vielfalt ihrer jeweiligen Mitglieder basiert. Der Begriff „radikale Vielfalt“ markiert bereits den Paradigmenwechsel, der passieren muss. Während Begriffe wie Integration und Leitkultur Vielfalt als das zentrale Problem der pluralen Gesellschaft markieren, plädieren die Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur dafür, diese Vielfalt als ihre Grundlage und Basis ihrer Wehrhaftigkeit zu verstehen.

Sie argumentieren auch, dass Krisenzeiten zeigten, wie sich eine Gesellschaft definiert. Was verrät die Corona-Pandemie über unsere Gesellschaft?

Die Corona-Krise hat noch mal klargemacht, wie aktiv und wirkungsvoll nationale Grenzen in der Verteilung von Solidarität und Schutz sind. Aber nicht nur nationale Grenzen, sondern auch die innergesellschaftlichen Differenzlinien von arm und reich, behaust und wohnungslos, die Gesellschaften bis in die Gegenwart durchziehen und dabei auch auf eine politische Denktradition zurückgreifen, die hier in Deutschland eine lange und unheilvolle Geschichte hat.