piwik no script img

Demographischer Wandel im OstenDas Rote Kreuz bringt das Wasser

In ländlichen Regionen bricht zunehmend die Infrastruktur weg. Was kommt nun: Freiwilligenarbeit? Ein Besuch in der Altmark.

Der Besuch der Kanzlerin in Stendal sorgt noch wochenlang für Gesprächsstoff. Die aus diesem Anlass gebackenen Muffins sind längst gegessen. Bild: dpa

STENDAL taz | Wenn in Stendal, einem Hansestädtchen, so groß wie Stralsund, ein Landesoberhaupt seiner Limousine entsteigt, ist das ein bisschen so, als wenn im Himalaja ein Ufo landet. Zuletzt war Kohl da, 1994, davon redet Stendal noch heute. Jetzt kam Merkel. „Der Kanzlerinnenbesuch“, sagen die Leute, die am Kornmarkt beim Bäcker einkaufen, und es klingt wie „Königsaudienz“ und ein bisschen auch wie „Katastropheneinsatz“.

Ein kurzhaariger Junge erklärt uns, weshalb sie da war, die Kanzlerin. Und zwar wegen „des demografischen Wandels“. Der sei das, was man vor ein paar Jahren noch „Schrumpfung“ nannte und der die Altmark schon jetzt so bitter trifft, dass die Kanzlerin mit ihrem Hubschrauber hier gelandet sei. Wozu? Um mit den Stadtvätern darüber zu reden, ob auf dem platten Land die Kinder weiter zur Schule kommen, die Kranken zum Arzt gehen können und der Bus weiterhin fährt. Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte, wird in vielen ländlichen Gebieten von Deutschland bald keine mehr sein. In der Altmark ist es das teilweise schon heute nicht mehr.

„Unmöglich“ sei das, wettert ein Herr in Beige, der draußen vor der Bäckerei in eine Seele beißt. „Die Fuzzis wollen uns da draußen das Wasser abdrehen!“ Eine Blonde, die einen Hauch zu viel Wangenrouge trägt, hält das für „Quatsch“. „Aber ja“, besteht der Beigefarbene auf seinem Wissen, das er angeblich aus der Zeitung hat. „Die wollen uns das Wasser abdrehen. Und alles, wofür die Kommune zuständig war, sollen dann Ehrenamtliche richten. Die Ehrenamtlichen bringen uns dann einen Eimer Wasser vorbei.“ Und genau darum sei es im Rathaus gegangen.

Die Altmark

Die Region im nördlichen Sachsen-Anhalt verliert nach einer Prognose des Statistischen Landesamts im Zeitraum von 1990 bis 2025 etwa ein Drittel ihrer Einwohner. Schon jetzt ist sie einer der am dünnsten besiedelten Räume Deutschlands.

Die Gemeinschaft von Beschäftigungslosen und Hilfsbedürftigen in Stendal heißt BIS e.V. und hat 348 Mitglieder.

„Natürlich ist das Quatsch“, sagt eine Frau im Jackett, die uns kurz danach in ihr Auto bittet. Sie hat auf einem Parkplatz gewartet. Sie startet den Wagen, schubst die Wagentür auf, wir steigen ein. Aber tatsächlich, bestätigt sie, waren als Inputgeber beim Kanzlerinnentreffen eine Handvoll Bürgerbewegter dabei.

Mohr gibt Gas

Eine davon war sie. „Die Tendenz gibt es“, sagt sie. Wo sich der Staat zurückzieht, tritt der Bürger auf den Plan. Er richtet Bürgerbusse ein, wo die öffentlichen nicht mehr fahren, baut Biokläranlagen, gründet Kitamobile. Auch im Rathaus sei das Thema gewesen. „Schreiben Sie das mal auf und schicken Sie es mir“, habe die Kanzlerin hier und da gesagt. Ob das schlecht sei, wollen wir wissen. Sie kuppelt und sagt: „Im Grunde nein.“ Sie heißt Mohr. Marion Kristin Mohr. Trägt das Haar entschieden schwarz gesträhnt, rote Brille, weißes Hemd, Jeans und robuste Stiefeletten, und hat etwas Energisches an sich, auch wenn sie nur einen Wagen lenkt. Sie gibt Gas. Draußen ziehen Äcker vorbei. Sattes Land, zu Furchen gepflügt, aus dicken Erdklumpen bricht erstes Grün hervor.

Der Motor zieht, und Mohr erzählt. Wie sie vor acht Jahren ihr erstes Selbsthilfeprojekt gründete. Zu Ostzeiten war sie Maschinistin, nach der Wende wollte sie nicht arbeitslos sein und fuhr, Mitte 20, mit Versicherungspolicen über Land, um sie den Leuten in der Altmark zu verkaufen. Mohr redet gern. Damals wie heute. Sie lernte immer mehr Leute kennen, und je mehr kleine Dramen einer schrumpfenden Region sie kannte, desto dringender wollte sie etwas Nützlicheres tun. Sie wusste: Sie konnte das. Wäre Mohr Betriebswirtin, würde sie sagen, sie habe Führungskompetenzen. So sagt sie: Ich kann gut Menschen zusammenbringen. Das tat sie – und gründete keine GmbH und keine Co. KG, sondern ein Netzwerk.

Die Idee war so simpel wie handhabbar: In einer Gegend, die schrumpft, gibt es einerseits Leerlauf, Übriggebliebene, für die nicht mal das Abwandern lohnt. Auf der anderen Seite bleiben immer mehr Alte allein, wenn die Kinder wegziehen, der Arbeit hinterher. Mohr hatte die Idee, diese beiden Gruppen zueinanderzubringen. Man braucht dazu nicht mehr als ein Büro und ein Zeitungsinserat. Und schon wächst etwas: ein Netz von Wahlfamilien. In Stendal gibt es mittlerweile Hilfsgemeinschaften, die von sich Sätze sagen wie: „Wir sind jetzt seit sechs Jahren zusammen“. Oder: „Wenn er so deprimiert ist, bringe ich Blumen mit.“ Das ist rührend. Und nützlich. Und wurde so erfolgreich, dass Mohr das Bundesverdienstkreuz bekam.

„Ist doch super“, sagen wir. „Vom Versorgungsstaat zur Selbsthilfegesellschaft. Erfolgreiche Praktikerin berät Kanzlerin.“ Aber Mohr schüttelt entschieden den Kopf und meint: „Nö. So einfach geht das nicht. Warten Sie. Ich zeig Ihnen was.“

Höfe stehen leer

Wir biegen ab, passieren das Ortsschild Wendemark. „Mark“ heißt „äußerste Grenze“. Die Elbe ist nicht weit, das Dorf ein Straßendorf. Vor dem letzten Haus steht auf der Treppe Frau Koevel. Leuchtend pinkfarbener Pullover, weinroter Anorak, rötliches Haar. So laut und vital wie ihre Farben ist auch sie. „Na?“, fragt Mohr. „Wie ist es gelaufen?“ „Nicht gut“, erwidert Koevel geradeaus. Das hätte man sich gleich denken können. Den Papierwust habe keiner verstanden. Auch wir verstehen nichts. Aber Koevel fährt jetzt auch erst mal ihr Auto vor. Wir müssten zum Kindergarten. Und dahin ist es weit.

Die Gegend heißt „Wische“, ein Sumpfgebiet – eine Weite aus Gras, in der wie auf Inseln Weiler liegen. Kopfweiden, sattes Grün. „Ist das die Gegend, wo die Fuzzis demnächst das Wasser abdrehen?“ Wasser haben wir genug, sagt Frau Koevel und erzählt, wie sie früher mit der FDJ die Gräben vom Schlamm befreiten. Jetzt erobert die Natur die Kulturlandschaft zurück. Höfe stehen leer, Gärten überwuchern. „Schauen Sie“, sagt Frau Koevel und zeigt auf einen Weg, der von der Straße abzweigt. „Diese Wege hier führen zu Höfen, die kilometerweit abseits liegen. Wer da hinten wohnt und nicht fahren kann, sitzt absolut fest!“

Der Altenkindergartentreff

Weil Koevel Frührentnerin ist und viele freie Tage hat, fasste sie einen Plan. Sie wollte einen Bürgerbus gründen, ehrenamtlich. Aber am nächsten Schritt scheiterte sie. Denn bis so ein Bus rollt, müssen Hunderte von Gesprächen geführt werden, müssen Tonnen von Papier bewegt werden, muss man juristische Kniffe kennen. Zum Glück kennt sie Mohr. Und Mohr, die inzwischen zur freiwilligen Managerin, Fädenzieherin und Koordinatorin sämtlicher Ehrenamtsprojekte landauf und landab geworden ist, kannte die Wendemärker noch aus ihrer Versicherungszeit, kannte den Bürgermeister des Gemeindeverbands und kennt einen Bürgerbusverein, der wiederum weiß, wie das alles geht. So fährt Mohr nun am Feierabend in die „Wische“ und berät, so wie früher. Hat wie früher Ordner und Formulare im Gepäck. Nur anders als früher winken keine Vertragsprovisionen.

Wir sind am Kindergarten angelangt. Er hat längst geschlossen, wurde umgebaut und ist jetzt ein Altentreff. Mohr wirft die Autotür zu. Geht forsch voran. Koevel, die Kleinere, wieselt hinterher. Den Altentreffkindergarten wollen sie langfristig zu einem Dorfzentrum machen. Hier draußen, wo es keine Post, kein Geschäft und kein Café mehr gibt, könnte dies ein Ort werden, der all diese Funktionen vereint. Wie früher der Dorfladen. Nur ohne Geld. Am besten wäre es, sagt Mohr, wenn man zeitweise auch eine geriatrische Fachkraft einsetzen könnte. Koevel steht neben Mohr, die redet. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und guckt leicht skeptisch.

'Mach mal' kann es nicht sein

„Ehrenamt ist keine simple Lösung“, sagt Mohr, als sie sich auf den Heimweg macht. „Schauen Sie, das braucht Geld. Es braucht Räume und Ausstattung, Ausbildung, Ermutigung und einen, der eins mit dem andern verbindet. Es braucht Kopf und Strategie.“ Darüber werde noch viel zu wenig nachgedacht. „Einfach die Segel einrollen, dem Bürger das Boot überlassen und sagen ’Mach mal‘, das kann es nicht sein.“

Als der Abend verblaut, kehren wir ein. Am Ufer der Elbe, im letzten Städtchen der Altmark: Werben. Die Kneipe heißt Elbestübchen. Die Gäste des kleinsten Bierstübchens im kleinsten Hansestädtchen passen alle um einen Tisch. Sie bitten auch uns dazu. Wir kommen aufs Ehrenamt zu sprechen. Einer, der zwanzig sein mag und sich als Wolo vorstellt, sagt: „Ehrenamt? Ich mach Ehrenamt. Ich lösche Brände. Das Urehrenamt der Deutschen. Aber mit unserer Feuerwehr haben wir Schwierigkeiten. Soll ich Ihnen sagen, warum?“ Er legt eine Kunstpause ein, trinkt und sagt: „Weil wir zu wenige sind“. Auf den Dörfern seien die freiwilligen Feuerwehren nur noch zur Hälfte einsatzbereit. Wenn Feuer ausbricht, brennen die Bauernhäuser, die weit draußen sind, herunter wie Zunder. Ehrenamt als Heilmittel in schrumpfenden Regionen.

Die Männer schütteln den Kopf. „Das geht so nicht weiter“, meint Wolo. „Ich sage Ihnen: Wenn noch mehr Leute wegziehen, brauchen wir eine Berufsfeuerwehr.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • F
    friedbert

    @ urbanist

    Selten so einen Humbug gelesen.

     

    Ein paar Wolfsrudel in Brandenburg sollen

    der Lebensleistung von hunderttausenden

    Menschen in einigen zehntausend Einwohner-Städten

    entsprechen(die denkmalgeschützten Werte

    und Kulturdenkmäler vergangener Generationen

    werden gleich mit entwertet)???

     

    Wie stände es denn dann, würden manche dieser

    zehntausend Einwohner-Städte Wolfsrudel in

    weitläufigen autobahnangrenzenden

    Waldgehegen (eine Umzäunung wäre bereits teilweise

    vorhanden) ansiedeln und für kontrollierte

    Wanderrouten der Tiere und Genaustausch sorgen

    und nicht nur Wölfe sondern Elche, Bisons,

    Auerhähne, Rebhühner, Großtrappen usw., Eulen,Adler,

    Luchse, Pumas, Rothirsche, Steinböcke,Gazellen, Gnus, Antilopen, Dromedare, Kamele, Auerochsen,Rentiere ausgesetzt und regelmäßig

    tiermedizinisch verarztet werden (Parasitenprophylaxe, Impfung, Quarantäne bei

    Seuchenkrankheiten) mit natürlicher Bestandsregulierung ohne Jäger? Um wieviel lebenswerter

    wäre es dann dort?

    Gerne wären auch Erlebniszoos willkommen bei denen

    Menschen eine dauerhafte Bindung zu "ihren" Tieren

    auf einer Zähmungsebene aufbauen und bestimmte

    Tierarten vor Gefahren beschützen(z.B. bei Tierarten

    wie Mustangs, Kamelen und vielen anderen).

    Das verspräche eine schöne Erlebnisbranche zu werden

    und eben auch Arbeitsplätze zu schaffen!!!!!!

    Plattmachen und Bevormundung der Massen sind Bestandteile

    der niedersten Form von Politikgebaren!!!

    Wissen Sie,dass ihr Vorschlag

    einer Massenentmündigung, Kapitalzerstörung,

    Solidarpaktzerstörung, Wirtschaftsvernichtung

    gigantischer Dimensionen bedeuten würde?

    Im Gegenteil die zu großen Kommunen leiden

    unter der Multiplikatorwirkung der massenhaft

    gescheiterten Existenzen und der Gentrifizierung

    und die kleinen ehemals tüchtigen Kommunen an

    der Deinnovationalisierung, dummgebildeter

    und kulturübersättigter Lernakrobaten ohne

    intrinisische Begeisterungsfähigkeiten.

  • H
    Hans

    Super, die Leute da zahlen die selben Steuern, kriegen aber dafür keine Gegenleistung in Form von staatl. Infrastrucktur.

    Konsequenz? Wieso sollen die Leute da überhaupt so viel Steuern zahlen, wenn sie davon nichts sehen?

    Und da beschweren sich Bundesländer wie Hessen und Bayern über den Länderfinanzausgleich. Hat man aus den Regionen mal was von brandenburger oder meckpommer Zuständen gehört.

     

    Es ist die Aufgabe des Staates diese Regionen am Leben zu halten, mit Infrastrucktur und Co, ansonsten fallen diese der Barbarei anheim und noch mehr fliehen. Und wo gehen die hin? In die eh schon überfüllten Städte und bieten dem Prekariat weitere Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt. Am Ende sind alle die VerliererInnen.

     

    @Urbanist:

    Ich bin zwar auch ein Fan von Renaturierung, doch dies kann nicht geschehen in dem man die urbanen Gebiete noch mehr zusiedelt. Da gibt es auch Tiere und Pflanzen, die verdrängt werden. Wir brauchen einfach weniger Menschen.

    http://media.de.indymedia.org/images/2011/08/313550.jpg

     

    @Wuff:

    Nur der Speckgürtel von Berlin wird zubetoniert, nicht aber der Rest.

  • W
    Wuff

    Keine Sorge, gerade in Brandenburg wird zubetoniert, was die Zementindustrie her gibt. Das Gerede über den Bevölkerungsschwund ist Unsinn. Schön wäre es, aber noch wird überall mit Schwung Ackernland mit Yuppieburgen zubetoniert.

  • U
    Urbanist

    Ich weiß ehrlich gesagt nicht was so schlimm daran sein soll wenn ländliche Regionen einen größeren Bevölkerungsrückgang verzeichnen bis irgenwann niemand dort mehr wohnt. Eines der größten Übel das wir der Umwelt angetan haben war/ist die massive Zersiedelung der Fläche. Ich komme ursprünglich aus der (Ober-)Rheinebene eine der dichtesten besiedelten Gebiete Deutschlands, gleichzeitig ist keine Stadt wirklich größer als 300.000 Einwohner aber alle 5km findet man irgendein 10.000 Einwohnernest das furchbar stolz auf seine Eigenständigkeit ist. Resultat: Es existieren keine größeren zusammenhängenden Naturgebiete, höchstens ein paar winzige Wäldchen. Alle wollen ihr Häusle in der Natur haben aber sind sich nicht im klaren dass sie dadurch die Natur mehr und mehr zerstören.

     

    Brandenburg hat hingegen große ungestörtere Wälder in denen sich sogar wieder Wölfe niederlassen. Dies ist das Kapital Brandenburgs und nicht irgendwelche unbedeutenden Städchen deren Bewohner für alle möglichen Erledigungen mit dem Auto fahren und massiv CO2 produzieren.

     

    Vielleicht sollte man einfach die Leute nach Berlin (oder in den Speckgürtel inklusive Potsdam) zwangsumsiedeln, natürlich für sämtliche Kosten, materiell wie seelisch, aufkommen und ganz Brandenburg das außerhalb des Berliner Speckgürtels liegt zu einem einzigen rießigen Nationalpark machen. Weil ganz ehrlich, Stendal lohnt sich weder wirtschaftlich noch umweltmäßig.