Demenz bei Kindern: Was eine Mutter nie vergisst

Luiz hat die seltene Krankheit NCL. Seine Mutter pflegt den 22-Jährigen. Wie verändert sich das Leben, wenn das Kind nach und nach Dinge verlernt?

Brigitte Wandkowski sitzt an der Seite ihres liegenden Sohns Luiz und legt eine Hand auf seine Brust. Beide lachen

Lust aufs Leben – mit allem, was dazugehört: Brigitte Wandkowski mit ihrem Sohn Luiz Foto: Ann-Kathrin Just

Nervös rutscht Brigitte Wandkowski auf ihrem Fensterplatz im Bus hin und her. Gerade fühlt sie sich so, als brenne sie innerlich. So, als wäre sie bei der Fahrt ins Krankenhaus aus der Zeit gefallen. „Ich dachte nur, solange der Bus nicht ankommt, ist alles noch nicht wahr.“ Es ist ein Déjà-vu. Wenn Brigitte Wandkowski ins Erzählen kommt, dann spricht sie so lebhaft, als hätte sie den Bus nie ganz verlassen. Also erinnert sie sich auch an den Regen an jenem Augusttag vor 14 Jahren. Und an die später strahlende Sonne, unter der sie mit der Diagnose für ihren Sohn Luiz wieder zu ihm nach Hause fährt.

Das mögliche Krankheitsbild für den damals Siebenjährigen geht ihr während der Fahrt zum Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf immer wieder durch den Kopf: NCL – Neuronale Ceroid-Lipofuszinose. Brigitte Wandkowski hat zufällig in einem Buch von der Erkrankung erfahren. Die Beschreibung passt genau. Es handelt sich dabei um einen seltenen Gendefekt, der dazu führt, dass ein wachsähnliches Protein in den Nervenzellen nicht mehr produziert wird.

Das führt bei dieser Form von NCL dazu, dass die betroffenen Zellen nach und nach absterben. Die Erkrankten werden selten älter als 30. Die Krankheit nennt sich auch Kinderdemenz. Ungefähr 300 Kinder und Jugendliche sind daran in Deutschland erkrankt, sagt die behandelnde Ärztin von Luiz. Brigitte Wandkowski ahnt aufgrund ihrer Lektüre bereits, worüber der Professor in seinem kargen Arztzimmer mit ihr sprechen wird. An vieles, was dann passiert, kann sie sich nicht mehr genau erinnern.

Was sie noch weiß, ist das, was der Professor über Kinderdemenz erzählt. Dabei geht er in seinem Zimmer auf und ab. „Er hat mir ganz klar gesagt, die Zukunft sieht nicht rosig aus und dass ich versuchen sollte, mich in meinen Sohn hineinzuversetzen.“ Am 10. Februar 2003 nehmen die Ärzte Luiz Blut ab, das den Verdacht der Mutter bestätigt. Beide Eltern tragen neben den gesunden Genen ein Gen mit Fehlinformationen in sich, das NCL auslöst. Luiz leidet an Kinderdemenz.

Vom Schmerz und vom Glück

Seitdem sind 14 Jahre vergangen. Seit drei Jahren wohnt Brigitte Wandkowski mit ihrem Sohn in einer Erdgeschosswohnung im Hamburger Stadtteil Bergedorf. Sie entschuldigt sich für die Unordnung im Wohnzimmer. Vor ein paar Tagen hat Luiz während eines Anfalls seine Windel durch die Gegend geschmissen. Doch davon ist nichts mehr zu sehen.

Brigitte Wandkowski rührt einen Löffel Honig in ihren Tee. „Ich stehe jeden Morgen auf und hab so richtig Lust auf mein Leben“, erzählt sie dann, trotz vieler Rückschläge. „Mit allem was halt dazu gehört. Mit Stress, mit Lachen, mit Hektik. Und ich merke auch innerlich, dass ich so einen Glückspilz in mir habe“, sagt sie überzeugt, auch wenn sie an manchen Tagen einen innerlichen Schmerz spüre. Doch auf den Schmerz will sie genau so wenig verzichten wie auf ihren Glückspilz. „Ohne diese Gefühle würde es auch Luiz nicht geben“, sagt sie. „Und dass es Luiz nicht gibt, kann ich mir jetzt gerade nicht vorstellen.“

Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass in Deutschland vier Millionen Menschen unter einer der 8.000 weltweit anerkannten seltenen Krankheiten leiden. Das Interesse der Pharmaindustrie, in die Erforschung neuer Medikamente zu investieren, ist trotz der hohen Zahl an Patienten immer noch gering. Deshalb galt der Verlauf einer unheilbaren seltenen Krankheit bislang als so gut wie aussichtslos. Aktuell gibt es ein Umdenken bei den Pharmaunternehmen, die sich auf solche Krankheitsbilder weiter spezialisieren. Neue Therapieformen könnten sich in den kommenden Jahren entwickeln und Erkrankten rechtzeitig helfen.

Luiz liegt in seinem Zimmer nebenan und hört „Die Drei Fragezeichen“. Wie viel er von dem Hörspiel noch versteht, ist unklar. Doch es entspannt ihn. Inzwischen ist er auf einen Rollstuhl angewiesen und kann kaum sprechen. Seine Tür ist offen, damit Brigitte Wandkowski ihn immer gut hören kann. Manchmal fällt er aus dem Bett, dann ist sie sofort bei ihm. Die Pflege übernimmt die Mutter für ihren Sohn zu Hause alleine. Der Vater wohnt in der Schweiz. Die Beziehung ist schon lange gescheitert. Mehr möchte sie nicht darüber sagen. „So lange ich kann, möchte ich für meinen Sohn ein gutes Medikament sein“, sagt sie.

Alte Erinnerungen

Das genaue Datum der Blutabnahme schlägt die Mutter in einem der Aktenordner nach. Es steht ganz hinten mit einigen weiteren Diagnosen wie dem Verlust der Sehkraft und Epilepsie. Neben dem Ordner liegen unsortierte Fotos von Luiz. Die Mutter schaut sich einige länger an, ohne etwas zu sagen. Es fällt ihr schwer, die alten Erinnerungen anzuschauen. Dennoch ist sie froh, dass sie die Gefühle, die dabei entstehen, zulassen kann.

Dann sucht sie plötzlich nach einem ganz bestimmten Foto. „Wo habe ich das nur gelassen“, murmelt sie und durchwühlt den Haufen. Die Bilder zeigen Luiz mal mit seiner Mutter auf einem Fahrrad. Mal bei seiner Einschulung auf einer Bühne. Und mit zugekniffenen Augen mit seinen Stofftieren am Strand. „Wo ist nur dieses Foto“, wiederholt sie. Doch das Bild von dem Tag, an dem Luiz beschließt, Fahrrad fahren zu können, findet sich nicht. Darum kramt sie die Geschichte aus ihrer Erinnerung hervor und beginnt zu erzählen: „Da ist er vier oder fünf Jahre alt.“ Die Diagnose NCL gibt es da noch nicht.

Wenn Brigitte ­Wandkowski erzählt, spricht sie so lebhaft, als hätte sie den Bus nie ganz verlassen

Er läuft zu seiner Mutter und überredet sie, ihm die Stützräder von seinem Fahrrad abzubauen. Die lacht. Mit dem Auto fahren sie in den Stadtpark. Dort angekommen, packt sie das Fahrrad aus und sagt: „Halt mal fest.“ In dem Moment kommt eine Bekannte vorbei und klönt mit ihr. Plötzlich ist Luiz weg. „Mama, guck mal!“, schreit er aus der Ferne. Als die Mutter sich nervös umschaut, entdeckt sie ihn, wie er auf seinem Fahrrad näherkommt. „Ich kann’s! Ich kann’s!“, schreit er, während er seine Hände hochreißt. Brigitte Wandkowski durchzuckt es. „Halte die Hände an den Lenker!“, ruft sie. „Es geht! Es geht!“, ruft er nur.

Das Fahrradfahren hat der 22-Jährige wieder verlernt. Jetzt verbringt er unter der Woche die Hälfte des Tages in einer Tagesförderstätte, während seine Mutter als Grafikerin zu Hause arbeitet. Beim Mittagessen in der Einrichtung hat Luiz eine Assistentin, die ihn füttert und ihm das Glas mit dem Wasser reicht. Sie geht mit Luiz auf die Toilette oder zum Einkaufen, auch wenn Luiz nicht sagen kann, was er genau haben möchte.

Mit Worten spart Luiz

Brigitte Wandkowski weiß am besten, was es bedeuten könnte, wenn Luiz seinen Zeigefinger ausstreckt und nach oben zeigt. Die Mutter fragt dann: Willst du noch einen Schluck? Oder: Willst du noch einen Keks? Wenn Luiz antwortet, klingt es oft nach einem langen zitterigen Stottern, das einige Sekunden oder Minuten dauern kann. Mit Worten spart Luiz. Brigitte Wandkowski ist dann oft still und hört ihm aufmerksam zu. Wenn sie weiß, dass Luiz in schlechten Händen ist und nicht verstanden wird, kommt sie schlecht zur Ruhe. „Ich möchte, wenn einer wie mein Luiz so sehr auf Hilfe angewiesen ist, dass er dann auch mit Leuten zusammen ist, die das Herz am rechten Fleck haben“, sagt sie.

Deswegen fährt sie ein paar Wochen später zu einer Weihnachtsfeier des Vereins NCL Deutschland, wo sie die Pfleger, die sich um ihren Sohn vor Ort kümmern, schon jahrelang kennt. Der Verein ist meistens eine der ersten Anlaufstellen nach Erhalt der Diagnose. In dem langgezogenen Wintergarten eines Restaurants im niedersächsischen Soltau trudeln an diesem kühlen Novembertag mittags nach und nach die Familien mit ihren Kindern ein.

Ein Jugendlicher mit NCL-Erkrankung kommt mit seiner Familie herein und stellt fest: „Ich bin heute schön.“ Dabei streift er sich durch sein frisch geschnittenes schwarzes Haar. „Schöner als Papa“, sagt er, die Umstehenden lachen. Wie alle anderen werfen sie am Eingang ein buntes Päckchen in einen Beutel. Später wird ausgelost, wer welches Geschenk bekommt. Zehn Gäste fehlen, stellt der zweite Vorsitzende des Vereins fest. Es scheint ihm schwer zu fallen, zur Weihnachtsfeier zu gehen. Er sieht, dass Kinder nicht mehr kommen, weil sie gestorben sind. Auch Brigitte Wandkowski wirkt nachdenklich.

Die Kinder von früher fehlen

Luiz packt sein Geschenk aus, das in seinem Schoß liegt. Mit seinen Händen tastet er das Paket langsam und konzentriert ab. Dann reißt er das Papier ab. Seine Mutter guckt gedankenverloren zu, wie sich unter den abgerissenen Fetzen Papier ein Spielzeugmotorrad offenbart. Sie gießt sich Milch in ihren Kaffee, bis der überzulaufen droht. Plötzlich werden ihre Augen wieder wacher und sie stellt die Kanne zurück auf den Tisch. Luiz lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Als er sein neues Plastikmotorrad in der Hand hält, verlässt Brigitte Wandkowski für eine Zigarette lang die Feier.

Auf dem Parkplatz erinnert sie sich an eine Geschichtenerzählerin, die es auf der Weihnachtsfeier früher gab, als sie mit Luiz eine von denen war, die noch niemand kannte. „Jetzt gehören wir zu den alten Füchsen“, sagt sie mit einem unsicheren Lächeln. Dann wirft sie die Kippe fort. „Heute habe ich das erste Mal das Gefühl, dass es einen richtigen Generationswechsel gab“, sagt sie. Dann stockt sie für einen Moment, als würde sie noch einmal einen kurzen Zug von der Zigarette nehmen. Doch unruhig sagt sie: „Weil die Kinder von früher nicht mehr da sind.“

Als sie später mit Luiz zurück nach Hamburg fährt, denkt sie darüber nach. Der nächste Schub, den Luiz bekommt, könnte ihn bettlägerig machen. Wenn sie darüber spricht, hört es sich fast so an, als würde sie wieder von dem Bus von damals sprechen, der sie der Diagnose näherbringt. „Ich habe nun schon öfter erlebt, wie es ist, wenn Luiz niemanden mehr erkennt. Er sagt dann auch zu mir, er will zu seiner Mutter. Das tut mir unendlich leid. Wenn er mich nicht erkennt, ist das wirklich ein grauseliger Zustand.“

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