Debatten in der Bremischen Bürgerschaft: Leben ist Unordnung
Die Bremische Bürgerschaft hat eine einzigartige Tagesordnung. Über die Reihenfolge der Debatten gibt sie keine Auskunft. Irre? Durchaus. Aber gut!
Z u den bis heute ungelösten Rätseln Bremens zählt, wieso die Bürgerschaft eine Tagesordnung hat, einen Ablaufplan und eine zeitliche Reihenfolge der Debatte, deren Zusammenhang in den Bereich absoluten Herrschaftswissens fällt. In anderen – fast hätte ich geschrieben in anständigen! – Parlamenten wird das ganz banal gehandhabt: Im Deutschen Bundestag zum Beispiel beginnt jede Sitzung unspektakulär mit Tagesordnungspunkt 1.
Dem sind eine Uhrzeit, gegebenenfalls auch Drucksachen und Ausschussprotokolle zugeordnet sowie eine erwartete Debattendauer. Dann folgt TOP 2, dann Nummer 3, 4… – Sie verstehen das Prinzip.
So kann, wer sich für die Belange der Stiftung „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“ interessiert, kommenden Mittwoch, 9. Juni, ab 18 Uhr in die Live-Übertragung reinschauen und -hören. Vielleicht beginnt es mit leichter Verspätung. Aber Orientierung ist möglich!
Das gleiche Prinzip gilt auch in Niedersachsen, es gilt in Brüssel und Strasbourg, es gilt – naja, eben nicht überall. Nämlich nicht in Bremen, wo die Tagesordnung als eine unverbindliche Stichwortsammlung von rund einer Million Themen daherkommt, über die man mal sprechen könnte. Angeblich stehen da manche schon seit 1947 drauf, ohne, dass jemand auf die Idee käme, eine Debatte über sie auch nur in Erwägung zu ziehen. Aber das ist bloß ein böses Gerücht.
Der wichtigste Moment einer Landtagsdebatte ist daher in Bremen die Eröffnung durch den Parlamentspräsidenten: „Die Sitzung beginnt heute vormittag“, so hatte Frank Imhoff (CDU) am Mittwoch die „anwesenden Damen und Herren, die Zuhörer und die Vertreter der Medien“ begrüßt, „mit dem Tagesordnungspunkt 36. Danach werden die Tagesordnungspunkte 22 und 48 verhandelt“. Fortgesetzt werde sie dann „in der Reihenfolge der weiteren Tagesordnungspunkte“, so seine Prognose. Nur: Welcher Punkt wäre in der Reihe 36, 22, 48 der nächste?
Nein, das ist keine Lotterie. Allerdings, die notwendige Rechenoperation zu kennen, berechtigt zum Führen eines Doktortitels in bremischer Parlamentsarithmetik. Das Ergebnis kann selbstverständlich nur 3 lauten, haben wir uns sagen lassen. Schließlich ist Nummer 2 ja schon am Donnerstag die Nummer 1.
Es wäre falsch, Bremens extrem hochbezahlten Parlamentsdirektor hinter dieser Verwirrtaktik zu vermuten, bloß weil er einmal Landesgeheimdienst-Chef war. Er führt die Konfusionstradition nur fort. Und genau besehen ist sie zu unser aller Bestem.
Denn das Wahlvolk hat auch eine gewisse Bringschuld: Wenn jemand sich wirklich für die Debatten der Bremischen Bürgerschaft interessieren sollte, dem kann auch ein bisschen Duchhaltevermögen abverlangt werden. Und Demut. Rosinenpickerei hingegen hat immer etwas Elitäres und ist als undemokratisch abzulehnen.
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