Debatte: Einigkeit macht schwach

Der Alleingang der Lokführer-Gewerkschaft GDL zeigt: Die Gewerkschaften müssen ihre Idee von Geschlossenheit aufgeben und eine neue Form der Solidarität entwickeln.

Die kleine Mücke GDL hievt elefantendicke Themen auf die Tagesordnung. Das liegt weniger an der Potenz der Lokführer-Gewerkschaft als Stechmücke, mehr an der Dringlichkeit organisations- und gesellschaftspolitischer Fragen nach dem Zustand der Gewerkschaften und der Zukunft der Arbeit.

In Berlin und anderswo in dieser Republik kann kein Mensch seinen Alltag meistern ohne die Arbeit der anderen. Vom Bissen im Mund bis zum Asphalt unter den Füßen, vom Strom, der aus der Steckdose, bis zum Bus, der wieder zu spät kommt - alles beruht auf der Arbeit anderer Menschen. Die schönen Sprüche, jede könne aus eigener Kraft, jeder sei sein eigener Herr, müssen viel Wirklichkeit ausblenden, um realistisch zu erscheinen. Nur weil sich einer kaufen kann, was er will, ist er noch lange nicht selbstständig und unabhängig. Er ist nichts anderes als der Konsument anderer Leute Arbeit. Weil die Arbeitsteilung dank neuer Technologien weltweit organisiert wird, ist diese Abhängigkeit tendenziell global geworden.

Wie die Artistin auf dem Trapez ihre Sprünge macht, so turnt der Bundesbürger auf dem Netz der Arbeit durch seinen Alltag, in der Tasche die Kreditkarte und im Kopf seine Ansprüche. Wehe, es reißt ein Faden, wehe, weder Karte noch Bargeld bringen die anderen zum Arbeiten. Gäbe es die Arbeiterklasse, hätte sie nur einen Funken des Bewusstseins, von dem Traditionslinke träumen - ein Tag würde genügen. Wofür?

Hinter der öffentlichen Aufregung über ein paar Lokführer, die ein paar Tage die Arbeit niederlegen wollen, steckt nicht nur das Schreck- und Schockgeschrei des Billigjournalismus. Die herrschende Meinung und die Nürnberger Rechtsprechung haben Angst vor Nachahmungstätern. Ihre leicht hysterischen Anfälle speisen sich aus dem bedrohlichen Gefühl, dass auch an anderen Knotenpunkten des Arbeitsnetzes Beschäftigte auf Streikideen kommen können - wofür auch immer. Die GDL will erstens mehr Geld und zweitens, das ist ein organisationspolitischer Knackpunkt, die Anerkennung als Tarifvertragspartei.

Nicht nur die Verwalter des störungsfreien "Weiter so!", auch aufgeklärte Köpfe haben ein Problem aus Anlass der GDL-Forderungen. Das Netz der Arbeit ist nämlich auch insofern prekär, als es eine zunehmende Zahl von Arbeitskräften immer weniger trägt - eine Abwärtsspirale, die geschwächte Gewerkschaften als Ursache und Folge zugleich hat. Die betroffenen Arbeitskräfte können sich in das Netzwerk der Arbeit überhaupt nicht mehr oder nur zu Konditionen einklinken, die sie zu Konsumenten dritter Klasse degradieren. Dürfen die, die drin sind, ihre Streikmacht zur Verbesserung ihrer Lage einsetzen, während die, die draußen sind, machtlos die Verschlechterung ihres Lebens hinnehmen müssen?

Diese Frage hat einen Doppelcharakter, einen reaktionären und einen solidarischen. Man kann so fragen, um die Beschäftigten klein und still zu halten, damit Management und Shareholder ungestört ihre Luxuskarossen, Segeljachten und Privatjets steuern (lassen) können - dann ist sie reaktionär. Aber so muss auch gefragt werden angesichts der enormen sozialen Spannweite innerhalb der Arbeitnehmerschaft.

Selbst wenn man sich dümmer stellt als es der politische Verstand erlaubt und auf globales Denken verzichtet - schon unter den Arbeitskräften in Deutschland sind die sozialen, die finanziellen und kulturellen Unterschiede drastisch, die Zugänge zu Informations-, Bildungs-, und Gesundheitsangeboten ganz unterschiedlich, die schlechten Risiken und die guten Chancen sehr ungleich verteilt. Der Status des Arbeitnehmers alleine rechtfertigt die Behauptung, benachteiligt zu sein und den Anspruch mehr zu wollen, nicht (mehr). Deshalb können sich gewerkschaftliche Forderungen nicht nur mit Blick auf unverschämten Reichtum, sie müssen sich auch mit Rücksicht auf Armut und Ausgrenzung erklären. Im Fall der GDL lässt sich eine kräftige Lohnerhöhung nur mit der reaktionären Variante der Frage ablehnen. Wo innerhalb der Arbeitnehmerschaft die Solidarität aufhört und die Organisationsblindheit beginnt, darüber wird jedes Mal neu zu streiten sein. Die mit den richtig dicken Taschen sollen sich dabei raushalten, solange sie Ungerechtigkeit als Wirtschaftsmotor hochhalten.

Organisationsblindheit ist ein heißes Stichwort, weil nicht nur böse fremde Mächte die Gewerkschaften schwächen. Tatsächlich steigert der Produktionsfaktor Wissen die Angebotsmacht der (qualifizierten) Arbeitskräfte. Aber ein althergebrachtes Organisationsverständnis, das Zentralismus, Einheit und die eine Wahrheit verehrt, blockiert solche Chancen. Organisationen, alle, nicht nur gewerkschaftliche, sind Geschöpfe der Nabelschau. Jede muss sich für die schönste und beste halten; wenn sie politisch und weit genug links ist, auch noch für die einzig wahre. In dieser Hinsicht sind sie alle gleich, da braucht man die Hand nicht umzudrehen. Mit Organisations- und Abgrenzungsproblemen kann ein rechtschaffener Funktionär sein ganzes Arbeitsleben zubringen, uferlose Überstunden inklusive.

Es käme darauf an, ein Organisations- und Solidaritätsverständnis zu entwickeln, das den produktiven Umgang mit Unterschieden lernt. Schwache Vorstände leben von Einheitsappellen, starke Organisationen von Offenheit und Vielfalt. "Diversity Management" ist nicht nur eine unternehmerische, sondern auch eine gewerkschaftliche Herausforderung.

Die Antwort auf die Zukunftsfrage gewerkschaftlicher Organisation heißt nicht "Einigkeit macht stark", sondern "stärkt die Vielfalt" - weil die Vielfalt anzuerkennen der bessere Weg ist, um zu handlungsfähigen Einheiten zu kommen. In stabilen sozialen Milieus waren Einheit und Zentralismus ein sinnvolles und machbares Konzept. Es war, nebenbei, wie die Gewerkschaftsgeschichte zeigt, selbst unter diesen historischen Bedingungen ein Konzept von beschränkter Reichweite. In der nanofein funktional ausdifferenzierten Gesellschaft von heute produziert Geschlossenheit nur noch Ausgrenzung. Zentrale Steuerung und das Beharren auf der einzig richtigen Lösung missraten zum Fetisch. Die Einigkeit beschwören und sich über alternative Wege beschweren, blockiert Möglichkeiten, verpasst Gelegenheiten. Du sollst keine anderen Organisationen neben mir haben, dieser Anspruch gilt nicht einmal mehr in der Religion.

Eingeweihte Gewerkschafter werden dagegen halten: Sieht man genauer hin, muss uns so viel Differenz, Dissens und Undiszipliniertheit erst einmal jemand nachmachen. Das ist genau der Punkt. Unter dem Deckmantel von Scheineinigkeit können Unterschiede nur destruktiv wirken. Die Vielfalt ist ein unhintergehbares Faktum. Werden Unterschiede offiziell ignoriert und inoffiziell unterdrückt, richten sie schnell Schaden an; mit wechselseitigem Respekt behandelt, nützen sie. Dieser Respekt verlangt es, der GDL Erfolg zu wünschen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.