Debatte um Pflegekammer: Datenpanne stoppt Umfrage

In Niedersachsen muss das Sozialministerium seine Umfrage zur Pflegekammer stoppen, weil sie manipulierbar ist. Die Kammer-Gegner triumphieren.

Pflegerin schiebt eine Patientin durch den Flur

Die Pflegekammer war von Anfang an umstritten Foto: Peter Steffen/dpa

HANNOVER taz | Es ist die jüngste Panne in einer langen Reihe: Die Mitgliederbefragung zur umstrittenen Pflegekammer in Niedersachsen musste am Montag vom Netz genommen werden. Eigentlich sollte mit der Onlineumfrage vom 3. Juni bis 5. Juli über die Zukunft der Einrichtung abgestimmt werden. Rund 80.000 Pflegekräfte waren zur Teilnahme aufgerufen worden, 7.000 hatten den 14-seitigen Fragebogen bis Montagnachmittag schon ausgefüllt, sagt das Sozialministerium. Doch am Wochenende stolperte mit Sandra Arndt vom Pflegebündnis Niedersachsen ausgerechnet eine Kammergegnerin über einen schweren technischen Fehler.

Rein zufällig, wie sie bei einer eilig anberaumten Pressekonferenz am Dienstagmittag in Hannover betont. Sie habe lediglich teilnehmen wollen – dazu war sie als Pflegekraft und damit Kammermitglied ja per Brief vom Sozialministerium aufgefordert worden.

Statt mühselig den im Brief angegebenen Link abzutippen, klickte Arndt jedoch auf einen Link, den jemand in einer Facebookgruppe gepostet hatte. Und landete in einem Fragebogen, der schon zur Hälfte ausgefüllt war – ohne nach ihrem persönlichen Zugangscode gefragt worden zu sein. Arndt alarmierte ihren Mitstreiter Kai Boeddinghaus, Geschäftsführer des „Bündnisses für freie Kammern e.V.“ aus Kassel, das gegen Kammern aller Art kämpft.

Umfragedaten unbrauchbar

Boeddinghaus – so stellt er selbst es dar – probierte erst einmal selbst herum und veränderte dabei verschiedene Fragebögen, ohne überhaupt stimmberechtigt zu sein. Gleichzeitig suchte er nach IT-Experten zur Unterstützung – und fand diese schließlich beim Chaos Computer Club, der Linken-Bundestagsabgeordneten Anke Domscheit-Berg und ihrem Ehemann Daniel Domscheit-Berg, dem ehemaligen Sprecher der Enthüllungsplattform Wikileaks.

Landespflegekammern gibt es bisher nur in drei Bundesländern: Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen.

Über ihre Einführung wird diskutiert in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen.

Auch im neuen Hamburger Koalitionsvertrag wird eine erneute Befragung der Pflegenden angedacht. Eine erste Befragung hatte keine Mehrheit für eine Kammer ergeben.

Die Informatiker bestätigten Boeddinghaus, dass es sich hier um eine gravierende Sicherheitslücke handelt – zum einen, weil die Umfragedaten durch Unbefugte manipuliert werden können und damit unbrauchbar sind. Zum anderen aber auch, weil die sehr detaillierte Abfrage von Alter, Wohnort und Beschäftigungsverhältnis am Anfang des Fragebogens unter Umständen Rückschlüsse auf die antwortende Person zulässt.

Die ITler mahnten Boeddinghaus aber auch zu einer Maßnahme, die dem politischen Überzeugungstäter erst einmal gegen den Strich ging, wie er selbst berichtet. „Ich habe widerstrebend den zuständigen Dienstleister Kienbaum über das Datenleck informiert“, sagte Boed­dinghaus. Man habe ihm klargemacht, dass sich dieser sogenannte „responsible disclosure“ so gehöre. Kienbaum habe die Umfrage daraufhin am Montagnachmittag umgehend offline gestellt.

Sozialministerin Carole Reimann ließ in einer ersten Pressemitteilung noch durchblicken, dass sie wohl hofft, der Fehler sei reparabel: „Ich erwarte, dass die technischen Probleme, die zur Unterbrechung der Befragung geführt haben, jetzt so schnell wie möglich abgestellt werden. Gleichzeitig verurteile ich die Versuche der Manipulation an dieser so wichtigen Befragung scharf“, sagte sie.

Die Gewerkschaft Ver.di forderte allerdings umgehend einen Neustart der Befragung, der Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion, Stefan Birkner, rief gar Ministerpräsident Stephan Weil auf, endlich einzugreifen und das Chaos rund um die Pflegekammer zu beenden.

Die Pflegekammer leidet seit ihrer Gründung im Jahr 2017 unter erheblichen Widerständen, auch aus den Reihen der Pflegenden. Die demonstrierten immer wieder in verschiedenen Städten gegen die Zwangsmitgliedschaft in einer berufsständischen Vertretung, deren Nutzen ihnen nicht einleuchten wollte.

Beitragsbescheide aus der hohlen Hand

Dazu kam das ungeschickte Agieren der Kammer selbst: So wurden anfangs hohe Beitragsbescheide verschickt und Zahlungen eingefordert, ohne das tatsächliche Einkommen der Betroffenen zu berücksichtigen. Es folgten endlose Personalquerelen, Rücktritte von Vorstandsmitgliedern und ein Misstrauensvotum gegen die Kammerpräsidentin.

Mittlerweile ist die Kammer beitragsfrei. Die Umfrage war auch ein Versuch, die Fronten zu beruhigen und zu eruieren, ob die Idee eine Chance hätte, wenn sie eben kein Geld kostet. Die Befürworter versprechen sich davon ein stärkeres Gewicht der Pflege in all den gesundheitspolitischen Entscheidungszirkeln, in denen sonst die Stimmen der Ärzteschaft und der Krankenkassen dominieren.

Doch selbst um die Umfrage gab es weiteren Zoff: Das Pflegebündnis Niedersachsen und andere Branchenvertreter monierten, dass die entscheidende Frage „Wünschen Sie sich für die Zukunft eine beitragsfreie Pflegekammer in Niedersachsen?“ missverständlich gestellt sei. Schließlich sei dabei nicht klar, wogegen man hier denn nun sei, wenn man mit „Nein“ stimmt: Gegen die Kammer oder gegen die Beitragsfreiheit? Mit der Datenpanne wird nun auch dieses Fass noch einmal aufgemacht.

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