Debatte über kostenlosen ÖPNV: Nulltarif gibt’s nicht für umme
Kostenlos Bus oder U-Bahn fahren: Ein alter Hippietraum gerät plötzlich in greifbare Nähe. Wäre ein solches Projekt in Berlin realistisch?
Wie wäre das, wenn die BerlinerInnen für eine Fahrt mit Bahn, Bus oder Tram so viel bezahlen müssten wie für die Nutzung von Straßennetz und Stadtautobahn? Nämlich nichts? Was lange ein exklusives Gedankenspiel von Revoluzzern schien, ist mit dem Vorschlag der Bundesregierung gegenüber der EU-Kommission, kostenlosen ÖPNV zur Reduzierung der Luftschadstoffe in Städten zu testen, plötzlich gar nicht mehr so anrüchig.
Mit dem Vorstoß wollen die BundesministerInnen die EU-Kommission besänftigen, um eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof oder gar Notmaßnahmen wie Fahrverbote zu vermeiden. Jetzt läuft es offenbar darauf hinaus, dass fünf mittelgroße Städte ein temporäres kostenloses Angebot testen können. Damit bleibt ein echter Nulltarif auch für Berlin weiterhin recht utopisch. Aber, rein theoretisch: Würde das funktionieren?
In der Verkehrsverwaltung gibt man sich der Idee freundlich zugewandt – und skeptisch. „Grundsätzlich wäre Berlin dabei, es muss aber auch machbar sein“, sagt Senatorin Regine Günther (parteilos). Sie habe ihre Zweifel, dass der Berliner ÖPNV kurzfristig auf eine solche Maßnahme reagieren könne. Wenn viele Menschen zusätzlich das Nahverkehrsangebot nutzen wollten, müsse die Infrastruktur entsprechend ausgebaut werden, und das dauere: „Die neuen Schienen liegen ja nicht morgen schon da.“
Vordringlich ist darum für Günther, dass der Bund Druck auf die Kfz-Hersteller ausübt, um sie zur Nachrüstung ihrer schmutzigen Motoren zu bewegen. Auch müsse er die Rechtsgrundlage der „Blauen Plakette“ schaffen, mit der die Kommunen differenzierte Fahrverbote in ihren Innenstädten einführen könnten.
Bei der BVG sieht man den Vorstoß ähnlich skeptisch. „Kann man machen“, sagt Petra Reetz, die Sprecherin des landeseigenen Verkehrsunternehmens, lakonisch, „aber man muss es sehr gut und sehr lange vorbereiten.“ Niemand solle sich vormachen, es sei für den Staat damit getan, den Einnahmeverlust aus Ticketerlösen zu ersetzen. Dabei handelt es sich zurzeit um rund 700 Millionen Euro im Jahr – in etwa ebenso viel legt der Senat jetzt schon in Form von vertraglichen Zahlungen, Subventionen für Ermäßigungen und Investitionszuschüssen drauf.
„Wenn das Ziel aber ist, dass deutlich mehr Fahrgäste die BVG nutzen, muss für diese zusätzlichen Fahrgäste auch das Angebot ausgeweitet werden“, so Reetz. Man locke ja niemanden dauerhaft vom Auto in Bahnen und Busse, wenn man dort nur „mit dem Ellbogen des Nachbarn im Gesicht“ unterwegs sein könne. Sprich: Mehr Fahrgäste benötigen mehr Fahrzeuge, und mehr Fahrzeuge brauchen wiederum mehr FahrerInnen und mehr Werkstätten. Aber da höre es noch nicht auf, so Reetz: „Auch die Fahrzeughersteller können nicht von heute auf morgen liefern, auch die müssten erst einmal mehr Leute einstellen. Das ist eine Kettenreaktion.“
Runter auf 3 Minuten
Rund 1,5 Millionen Fahrgäste nutzen die BVG jetzt schon täglich, die allermeisten mehr als einmal. Auf ungefähr die Hälfte dieser Zahl kommt die S-Bahn. Während bei deren Betrieb bekanntlich noch viel Luft nach oben ist, könnte es gerade auf einigen U-Bahn-Strecken schon bald richtig eng werden, rein betriebstechnisch. „Die meisten Linien fahren heute schon im 5- oder 4-Minuten-Takt“, erklärt Reetz. „Auf 3 Minuten können wir noch runtergehen, noch kürzere Abstände gehen nicht.“
Die Finanzierung eines für die NutzerInnen kostenlosen Nahverkehrs steht dabei noch auf einem ganz anderen Blatt. Dabei ist interessant, welche Kosten eigentlich wegfallen würden, wenn man auf das gesamte Fahrkartenvertriebs- und Kontrollsystem verzichtete. Genau diese Frage hat die Verkehrsverwaltung erst vor zwei Wochen beantwortet – gestellt hatte sie der offenbar prophetisch begabte AfD-Abgeordnete Gunnar Lindemann. Demnach belaufen sich die Ausgaben der BVG für Aufstellung und Wartung von Automaten, Verkaufsstellen, Abo-Verwaltung, Marketing und Kontrollen auf rund 40 Millionen Euro im Jahr – ein relativ überschaubarer Anteil des Gesamtvolumens.
Eine Aussage in der von Staatssekretär Jens-Holger Kirchner unterzeichneten Antwort irritiert: „Modellrechnungen zu einem kostenlosen ÖPNV im Berliner Stadtgebiet sind dem Senat nicht bekannt.“ Dabei hatte die Piratenfraktion in der vergangenen Legislaturperiode genau das veranlasst: In ihrem Auftrag führte die Hamburg Institut Research gGmbH eine Machbarkeitsstudie für „fahrscheinlosen Nahverkehr“ durch – möglicherweise war diese für Kirchner nicht detailliert genug. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass alle ÖPNV-Leistungen in Berlin jährlich zwischen 2,2 und 2,7 Milliarden Euro kosten würden, einschließlich dem Mehrbedarf durch gestiegene Nachfrage.
Für Franz-Josef Schmitt, den politischen Geschäftsführer der Berliner Piratenpartei, ist der Vorschlag der Bundesregierung deshalb ein Grund zur Freude: „Piraten wirken, auch wenn sie gerade nicht in einem Parlament vertreten sind.“ Das von den Piraten 2015 vorgeschlagene fahrscheinlose Modell beruhte dann allerdings auf einem verpflichtenden „Bürgerticket“, das alle Erwerbstätigen im Monat rund 50 Euro kosten würde.
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