Debatte über Politik und Medien: Aus deutscher Tiefe
Die Historikerin Hedwig Richter und der „Zeit“-Vize Bernd Ulrich haben das Sonderwegsdenken deutscher Eliten angeprangert – zu Unrecht.
S ind die Eliten der Bundesrepublik in einem Sonderwegsdenken gefangen? Das behaupten die Historikerin Hedwig Richter und Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Zeit. Sie rufen dazu auf, die Fesseln eines falschen Geschichtsbewusstseins zu sprengen. Der Zivilisationsbruch von Nationalsozialismus und Holocaust werde in die „Tiefe der deutschen Geschichte“ hinein verlängert. Diese „Deutung der deutschen Schuld“ hindere das Land an der Bewältigung zentraler Gegenwartsaufgaben.
Sie führe zu „permanenter Selbstverwöhnung“ und „Zumutungsfreiheit“: Die Bundeswehr funktioniert nicht, weil sie nicht funktionieren soll. Die Deutschen betrachten die EU als Schutz vor sich selbst. Kurzum: Die Bundesrepublik müsse endlich zur selbstbewussten Nation werden und sich von der Idee eines im Vergleich zum Westen historisch defizitären Sonderwegs lösen. Diese fragwürdigen Behauptungen beruhen auf einer falschen Voraussetzung.
Denn „Politik und Medien“ hängen längst nicht mehr alten Vorstellungen eines deutschen Sonderwegs an. Zweifellos war die These eines unheilvollen deutschen Sonderwegs lange populär. Seit den 1960er Jahren gewann in der Bundesrepublik die Vorstellung an Einfluss, dass die Abwendung von westlichen Werten und Normen vom späten 19. Jahrhundert an die nationalsozialistische Machtergreifung von 1933 bedingt habe. Diese Erzählung hatte einen politischen Mehrwert:
Die Demokratisierung von Kultur und Gesellschaft wurde als Teil einer auch ideell verstandenen Westbindung vermittelt. So fungierte die Sonderwegsthese in der alten Bundesrepublik als geschichtspolitische Stütze der liberalen Demokratie. Die Bundesrepublik sollte politisch und kulturell im Westen verankert werden.
Auch nach 1990 bestimmte die Vorstellung vom deutschen Sonderweg öffentlichkeitswirksame Ankunftserzählungen wie Heinrich August Winklers zweibändige Darstellung „Der lange Weg nach Westen“. Doch seit gut 20 Jahren werden Diskussionen über den Westen kaum noch im Lichte der Sonderwegsthese geführt. Es ist bezeichnend, dass Richter und Ulrich gerade hier jene „parallelen Entwicklungen im nordatlantischen Raum“ nicht zur Kenntnis nehmen wollen, die sie an anderer Stelle betonen.
Denn kommt man ihrer Aufforderung nach, „nicht national zu vereinfachen“ und Entwicklungen „im internationalen Vergleich“ zu sehen, zeigt sich: Diesseits wie jenseits des Atlantiks ähneln sich inzwischen die Frontlinien der Ideenkämpfe um den Westen. Heute geht es weniger um den Abstand zwischen Deutschland und dem Westen als vielmehr um eine Statusbestimmung des Westens selbst. Deutschland ist ein selbstverständlicher Teil des Westens geworden. Das spiegelt die veränderte Diskursdynamik wider.
Riccardo Bavaj, geboren 1976, ist Professor für Neueste Geschichte an der University of St. Andrews. Martina Steber, geboren 1976, ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsabteilung München am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin.
So stehen sich auf beiden Seiten des Atlantiks Anhänger*innen und Gegner*innen eines „liberal-demokratischen Westens“ gegenüber. Zugleich legen postkoloniale Positionierungen jenseits des Westens die Ausgrenzungsmechanismen westlicher Identität offen. Einerseits beklagen überzeugte Verteidiger*innen des Westens das fehlende Selbstbewusstsein seiner Bewohner*innen. Sie seien von Selbstzweifeln geplagt und von postmodernem Werterelativismus verunsichert.
Der Historiker und Medienstar Niall Ferguson ruft alle „Westler“ dazu auf, das „Programm der westlichen Zivilisation“ neu zu starten und die „Killer Apps westlicher Stärke“ zu reaktivieren. Auch in Deutschland wird der Westen verteidigt: mal mit Fokus auf den transatlantischen Beziehungen, mal mit Blick auf die Krise der liberalen westlichen Demokratie, mal in Bezug auf die wirtschaftliche Herausforderung durch China.
Zweifelhafte historische Thesen
Ihnen gemein ist: Sie kreisen um den Begriff eines liberal-demokratischen Westens als zentralem Identitätsanker. Die Verteidigung der liberalen Demokratie wird so zum Kampf für und vor allem um den Westen im globalen Zusammenhang. Andererseits stellen postkoloniale Denker*innen auch hierzulande den Leitbegriff des Westens grundsätzlich infrage, ganz im Sinne des britisch-ghanaischen Kulturtheoretikers Kwame Anthony Appiah: „There is no such thing as western civilisation.“
Wie er plädieren sie für ein „neues kosmopolitisches Denken“ jenseits der ausgrenzend wirkenden Ideologie des Westens. Die These von Richter und Ulrich, dass sich weite Teile deutscher Politik noch immer in den Vorstellungswelten des deutschen Sonderwegs bewegen, ist vor diesem Hintergrund absurd. Sie ist ein Strohmannargument. Die Sonderwegsthese wird aus der Mottenkiste geholt, um für ein „erwachsenes“ und „souveränes“ Deutschland zu plädieren. Doch was genau ist damit gemeint?
Welche innen- und außenpolitischen Konsequenzen ergeben sich aus einer Neuinterpretation deutscher „Freiheit“? Und vor allem: Impliziert dies nicht eine grundstürzende erinnerungspolitische Wende, weg von vermeintlichen Einseitigkeiten im Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus? Die historische Argumentation dieser nationalen Gedankenspiele ist ebenso abwegig wie provinziell.
Eine differenzierte Betrachtung der deutschen Ermöglichungsstrukturen des NS-Regimes wird eingetauscht gegen eine vage Bezugnahme auf „Phänomene der Hochmoderne um 1900 im Guten wie im Schrecklichen“. Deren Ambivalenzen werden „der Demokratie“ eingeschrieben, NS-Regime und Shoah als bloße Varianten allgemein moderner Destruktionspotenziale relativiert.
Aus der „Tiefe der deutschen Geschichte“ wollen Richter und Ulrich ein selbstbewusstes demokratisches Nationalbewusstsein ableiten. Doch mit zweifelhaften historischen Thesen, rhetorischen Worthülsen und nationalen Blickverengungen kommt man den globalen Herausforderungen, denen sich liberale Demokratien zu stellen haben, nicht bei.
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