Debatte Zukunft der Arbeit: Das Hirn braucht Leerlauf
Immer, wenn die Arbeit härter wird, fordern Menschen verstärkt das Recht auf Freizeit. Richtig so – denn die besten Ideen hat man beim Nichtstun.
E s gilt, ein Problem zu lösen. Man buddelt sich rein, man grübelt. Aber je zielgerichteter man versucht zu denken, desto ausgelatschter scheinen die Pfade. Nichts als Ideen, die schon hundertmal formuliert wurden, den ganzen Vormittag lang. Schließlich Resignation: Ab aufs Sofa, in die Wanne, in den Park. An nichts Besonderes denken. Und plötzlich: Heureka! Ein unverhoffter Geistesblitz!
1998 erbrachte der amerikanische Hirnforscher Marcus Raichle bei Studien mit dem Kernspintomografen den wissenschaftlichen Nachweis einer Vermutung, die Dichter und Denker bereits seit Aristoteles formuliert haben. Immer, wenn eine seiner Versuchspersonen sich auf eine Aufgabe konzentrieren sollte, nahm die Aktivität in bestimmten Bereichen des Gehirns ab. Umgekehrt nahm sie zu, sobald die Tests beendet waren.
Raichle fand heraus, dass das Gehirn Leerlauf braucht, um sich mit sich selbst zu beschäftigen, sich zu sortieren, Gelerntes zu verarbeiten. Man darf dem Kopf nicht nur im Schlaf erlauben, immer mal wieder in sich selbst spazieren zu gehen.
Viele Menschen sind für ihren Broterwerb auf gute Ideen angewiesen. Es ist also kein Wunder, dass Autoren schon immer besonders in jenen Momenten auf ihr Recht auf den schönen Schlendrian pochten, wenn sie sich bedroht fühlten – weil sich gerade die Arbeitswelt radikal änderte. Einer der ersten Kritiker der Arbeit ist Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue, der in seinem Buch „Das Recht der Faulheit“ nicht nur auf das Arbeitsethos seines Schwiegervaters reagierte, sondern auch auf die Rationalisierung der Arbeit während der industriellen Revolution.
Damals entstand erst unser moderner Arbeitsbegriff, die Idee des Jobs, von dem es sich zu erholen gilt. Der junge Friedrich Engels hat beobachtet, dass beispielsweise die Weber vor der industriellen Revolution meist nur so viel arbeiteten, wie sie mussten. Erst später wurden sie stärker eingebunden und mussten täglich zwölf Stunden in dunklen, überfüllten Hallen die immer gleichen Handgriffe tun. Klar, dass sich damals auch Menschen darum zu sorgen begannen, die selbst keine Fabrikarbeiter waren.
Neue Arbeitsmarktinstrumente entmündigen
In den letzten zwanzig Jahren gab es vor allem einen großen Umbruch in der Arbeitswelt, und auch dieser wurde von interessanten, arbeitskritischen Debatten begleitet. Zunächst schien es so, als ginge es bei der Einführung von Hartz IV 2002 vor allem darum, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen. Darauf reagierte das von Guillaume Paoli herausgegebene, viel beachtete Buch „Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche“. Paoli, geboren 1959 und aufgewachsen auf Korsika, hatte bereits 1996 in seinem „Manifest der Glücklichen Arbeitslosen“ „die Beendigung aller Kontrollmaßnahmen gegen Arbeitslose“ gefordert.
Vielen gängigen empirischen Untersuchungen über negative psychische Auswirkungen der Arbeitslosigkeit zum Trotz behauptete Paoli, es mangele den Arbeitslosen nicht an Arbeit, sondern an Geld und gesellschaftlicher Akzeptanz, um glücklich zu sein. Anstatt die Arbeitslosen also zu disziplinieren und in prekäre Jobs zu treiben, sollte man die Arbeit lieber umverteilen. So bliebe ganz nebenbei auch noch für jeden genug Zeit, sich zu entspannen, einfach mal nichts zu tun.
Romanfigur Bartleby
Während sich die Kritik Paolis eher in der Empörung über die entmündigende Wirkung der neuen Arbeitsmarktinstrumente erschöpfte, gewann im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends die Kritik an den Deregulierungsmaßnahmen der Hartz-IV-Reformen die Oberhand: an prekären Minijobs, an Abstiegsängsten und Stress, die viele Arbeitenden angesichts der zunehmenden Flexibilisierung thematisierten.
Den Kritikern reichte die polemische Kraft der Forderung nach mehr Müßiggang nicht mehr, sie forderten nun die totale Karriereverweigerung. Eine der interessantesten Initiativen in diesem Zusammenhang ist das Berliner Autorenkollektiv Haus Bartleby, benannt nach einer Romanfigur Herman Melvilles. Der Schreibgehilfe Bartleby kopiert in seinem lichtlosen Büro an der Wall Street unermüdlich Verträge, lehnt aber eines Tages zur Überraschung seines Arbeitgebers jede Tätigkeit mit den Worten ab: „Ich möchte lieber nicht“ („I would prefer not to“).
Der Mensch braucht Muße
Die Autoren vom Haus Bartleby, darunter die Journalisten Alix Faßmann und Anselm Lenz, richten sich in ihrer Kritik auch gegen Anforderungen, wie sie die globale Vernetzung via Internet, E-Mail, sozialen Netzwerken hervorgebracht hat. Es geht schlicht um die Forderung in vielen Berufsfeldern, allzeit bereit zu sein, beispielsweise in der Bahn nach Hause nicht einfach mal den Blick schweifen lassen zu dürfen, sondern die letzten Nachrichten zu checken.
Dieser Kritik wird oft entgegengehalten, dass die Klage über die Veränderungen unseres Denkens bei jeder neuen Kommunikationstechnik laut wurde. Schon Sokrates, der sein Denken gern im Dialog entwickelte, schimpfte im 5. Jahrhundert vor Christus gegen die damals neue Unsitte des Schreibens. Er fürchtete, die neue Technik zerstöre die Fähigkeit des „erinnernden Verstehens“.
Vergleichbar besorgt äußerten sich andere bei der Einführung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Man dachte, gedruckte Bücher würden die geistige Faulheit fördern und die Macht der Kirche schwächen. Aber ist es nicht tatsächlich so, wie Ulrich Schnabel in seinem schönen Buch „Muße“ aus dem Jahr 2004 einräumt? Dass die Fähigkeit, sich ans gesprochene Wort zu erinnern, mit dem Aufkommen der Schrift abnahm, und dass der Buchdruck zur Emanzipation der Bürger beitrug?
Die Warnungen von Kritikern wie Guillaume Paoli, Alix Faßmann und Anselm Lenz mögen manchmal zugespitzt sein, aber sie haben auch einen wahren Kern. Je eingespannter wir sind, desto weniger fällt uns ein. Kein neuer Gedanke ohne wenigstens ein bisschen Leerlauf im Kopf. Der Mensch braucht Muße, und es wird immer schwieriger, sie zu verteidigen.
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