Debatte Wahlen in Israel: Heraus aus der Opferrolle
Die palästinensischen Israelis könnten am Dienstag die Regierung Netanjahu beenden. Stattdessen boykottieren viele die Wahlen zur Knesset.
D ienstag wählt Israel. Zwanzig Prozent der Wahlberechtigten sind palästinensische Israelis. Zu diesen zähle auch ich. Unsere Macht, die politische Landkarte Israels zu ändern, ist enorm. Vielmehr: Sie könnte enorm sein. Doch wir machen von ihr keinen Gebrauch. Stattdessen verspielen wir wieder und wieder die große Chance, unser Land mitzugestalten.
Drei arabische Parteien sind in Israels Parlament, der Knesset, vertreten, zurzeit halten sie zusammen 11 der 120 Sitze. Es könnten weitaus mehr sein, wenn nicht die Hälfte der wahlberechtigten palästinensischen Israelis Boykottaufrufen aus ihren Reihen folgen und ihr Stimmrecht verfallen lassen würde.
Und die in der Knesset vertretenen arabischen Parteien tun vieles, ihr Potenzial als legitime demokratische Mitspieler zu verschleudern, indem sie sich allein auf „die palästinensische Frage“ konzentrieren.
Wie es den Palästinensern in Israel selbst ergeht, scheint sie nicht zu interessieren. Reflexhaft verbünden sie sich mit den Gegnern Israels. Sie weigern sich, wahrzunehmen, dass Israel auch unser Staat ist und wir darin politisch präsent sein können, stark und konstruktiv.
Nehmen wir etwa die Balad-Partei. Deren früherer Fraktionsvorsitzender, Asmi Bischara, wird beschuldigt, während des zweiten Libanonkrieges 2006 sensible Informationen an die Hisbollah geliefert zu haben. Eine ihrer Abgeordneten, Hanin Soabi, baut ihre Wahlkampagne allein darauf auf, dass sie auf der „Mavi Marmara“ mitsegelte, um die Gaza-Blockade zu durchbrechen, und dass sie sich dort gegen israelische Soldaten wehrte.
ist Diplompsychologe, wurde 1976 in Israel geboren und lebt seit acht Jahren in Deutschland. In Tel Aviv studierte er Psychologie, Soziologie und Philosophie. Er ist Berater der European Foundation for Democracy.
Das Resultat: Arabische Mandatsträger in der Knesset kommen für die übrigen Parteien als politische Partner nicht infrage. Ihre politische Einflussnahme bleibt minimal. Auch weil sie sich den massiven Problemen der arabischen Bevölkerung Israels nicht stellen.
In unserer Bevölkerungsgruppe nehmen Kriminalität und Radikalisierung zu, das Bildungssystem ist so gut wie zusammengebrochen. Fragt man in der arabischen Bevölkerung Israels nach, heißt es wie bei deren Abgeordneten: Schuld an diesen Zuständen sind der Staat Israel, die Polizei, die Regierung!
Selbstreflexion und Selbstkritik fehlen. Weder auf kommunaler noch auf nationaler Ebene wird versucht, die Zustände aktiv zu verbessern. Mit dem Finger auf den Staat weisen und klagen? So sieht eine aussichtsreiche Strategie nicht aus.
Unhaltbare Zustände
Dabei gibt es unhaltbare Zustände. Das belegt etwa ein Beispiel aus meinem Heimatstädtchen Tira, kaum 20 Kilometer von Tel Aviv entfernt. Dort wurde 2012 ein früherer Schulkamerad von mir auf offener Straße ermordet. Einige Jugendliche schuldeten ihm mehr als tausend Dollar. Es war für sie günstiger, einem Auftragskiller hundert Dollar zu zahlen, als die Schulden abzuarbeiten.
Solche Vorkommnisse sind heute in arabischen Städten Israels traurige Normalität geworden. Aber auf diese Skandale verwenden wahlkämpfende arabische Parlamentarier kein Sterbenswort. Jenseits der Realität klammern sie sich an Verschwörungstheorien oder behaupten, die Polizei sei nicht an Aufklärung von Verbrechen unter Arabern interessiert. Schauergeschichten zur eigenen Opferrolle wirken noch immer attraktiver als Offensiven zur Bildungspolitik oder zur Verbesserung der lokalen Infrastruktur.
Wie ihre Repräsentanten, so ist die Bevölkerung der arabischen Israelis blind dafür, wo ihre Macht zu konstruktiver Gestaltung liegt. Sie haben Angst vor dem erneuten Sieg der Rechten in Israel, doch anstatt Bündnisse und Koalitionen zu suchen, verspielen sie ihre Chancen. Arabische Israelis, die sich konstruktiv und glaubwürdig am demokratischen Prozess beteiligen, hätten es in der Hand, Netanjahus Politik über Nacht zu beenden.
Meretz und Hatnua wählen
Sie könnten sich etwa für eine der linken Parteien wie die Arbeitspartei, Meretz oder Hatnua entscheiden. Es würde schon genügen, wenn nur ein Teil der arabischen Israelis zur Vernunft käme, um der israelischen Rechten eine Mehrheit unmöglich zu machen.
Ja, es gibt auch in Israel Diskriminierung. Es existiert eine ungleiche Verteilung der Ressourcen zwischen der arabischen und der jüdischen Bevölkerung. Das zu ändern, bedarf es aber der Mitarbeit von uns allen. Wir als israelische Araber müssen beginnen, uns als Teil dieser Gesellschaft zu sehen und in ihr gegen die Diskriminierung zu kämpfen.
Dazu haben wir eine Chance und ein Recht. Wo Israels Palästinenser aber die Existenz Israels infrage stellen oder den Raketenbeschuss durch die Hamas oder die Hisbollah bejubeln, berauben sie sich dieser Grundlage.
Opfertod für Palästina
Gerade die jüngsten Konflikte haben gezeigt, dass die Raketen von Hisbollah und Hamas nicht zwischen Juden und Arabern unterscheiden. 19 der 44 während des zweiten Libanonkrieges getöteten Zivilisten waren Araber. Die Schmerzen der einen sind genauso wichtig wie die der anderen. Umso entsetzlicher ist es, wenn ein arabischer Vater erklärt, er habe seine beiden Kinder, die in Nazareth beim Spielen im Garten von einer Rakete der Hisbollah-„Brüder“ getötet wurden, gern „geopfert“.
Das Geschütz hatte einer jüdischen Siedlung gegolten, und so erklärte der Vater Israel für schuld an diesem „Opfertod“. Und wenn, wie im Dezember 2012, ein Anschlag in Tel Aviv von einem arabischen Israeli verübt wird, vertieft dies die Brüche zwischen den Bevölkerungsgruppen.
Ein gemeinsamer Staat
Würden wir Araber in Israel unsere Energie in den gemeinsamen Staat, die gemeinsame Gesellschaft investieren, wären wir eines der stärksten Symbole der Versöhnung auf der Welt. Wir könnten der lebendige Beweis dafür sein, dass Araber und Juden in Frieden zusammenleben und -arbeiten.
Dass das keine utopische Vorstellung ist, wird täglich im Land bewiesen, überall dort, wo jüdische und arabische Israelis gemeinsam an Universitäten studieren, dieselben Restaurants und Cafés besuchen oder in Teams für Unternehmen arbeiten.
Voraussetzung dafür, solche Bündnisse und Kooperationen auf den politischen Prozess auszudehnen, wäre unsere Emanzipation von der Fixierung auf die Palästinenser im Westjordanland und in Gaza – und die Teilnahme an den heutigen Wahlen.
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