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Debatte Wahl in MexikoFeudale Demokratien

Toni Keppeler
Kommentar von Toni Keppeler

Die Mexikaner sind bereit, an diesem Sonntag eine korrupte Partei an die Macht zu bringen. Ist Bestechung schon so selbstverständlich? Ein Erklärungsversuch.

Lassen sich nicht mehr täuschen: Jugendliche der Bewegung „YoSoy132“ am Samstag in Mexiko City. Bild: dpa

A uch junge Mexikaner müssten es eigentlich wissen, selbst wenn sie nur eine vage Erinnerung an die letzte Zeit der 71 Jahre währenden PRI-Herrschaft haben: Diese Partei der institutionalisierten Revolution ist durch und durch korrupt. Es steht in den Zeitungen, fast täglich.

Zuletzt wurde der Gouverneur des Teilstaats Tamaulipas aus der PRI ausgeschlossen, weil er in seiner Amtszeit fast 6 Millionen Euro Schmiergeld von Drogenkartellen eingesteckt hatte. Da fehlten nur noch fünf Wochen bis zur Präsidentschaftswahl. Vorher schon hatte Parteichef Humberto Moreira zurücktreten müssen. Er hatte als Gouverneur von Coahuila rund 2 Milliarden Euro mit gefälschten Rechnungen belegt. Und trotzdem scheinen die Mexikaner wild entschlossen, am 1. Juli eben diese PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht zu wählen.

Zwar ist mitten im Wahlkampf ganz unerwartet eine kleine Protestbewegung für mehr Transparenz entstanden: ein Ableger der Occupy-Bewegung, der sich etwas kryptisch //twitter.com/YoSoy132:#YoSoy132 nennt, ein Suchwort im sozialen Netzwerk Twitter. Der Name ist nach einem offenen Protestbrief von 131 Studenten an den PRI-Kandidaten Enrique Peña Nieto entstanden und bedeutet: Ich bin der 132. Unterzeichner.

Es sind zwar inzwischen etliche Tausend, aber noch ist nicht heraus, ob die Bewegung den 1. Juli überlebt. In den Umfragen jedenfalls hat sie dem PRI-Kandidaten nicht geschadet. Für die Mehrheit der Mexikaner ist Korruption offenbar so selbstverständlich, dass sie keine Rolle bei der Wahlentscheidung spielt.

Das Phänomen ist keineswegs auf Mexiko begrenzt und lässt sich auch nicht nach dem politischen Links-rechts-Schema verorten. Man weiß heute, dass Chiles ehemaliger Diktator Augusto Pinochet nicht nur grausam war, sondern sich auch selbst bereichert hat, genauso wie Guatemalas ehemaliger rechter Präsident Alfonso Portillo.

Bild: taz
Toni Keppler

schreibt seit fast 30 Jahren über lateinamerkikanische Politik, unter anderem für die taz. Er betreut das latino-media-Büro Tübingen und pendelt zwischen Deutschland und Lateinamerika.

Von Korruption durchfressen

Das Venezuela des Linkspopulisten Hugo Chávez wird im jüngsten Korruptionsranking von Transparency International auf Platz 172 (von insgesamt 182 Ländern) geführt, Brasiliens gemäßigt linke Präsidentin Dilma Rousseff hat innerhalb nur eines Jahres sieben ihrer Minister wegen Korruptionsvorwürfen entlassen.

Auch ihr Vorgänger Lula da Silva war nicht frei von dieser Plage. Er musste 2005 seinen Kabinettchef José Dirceu in die Wüste schicken. Nicht, weil dieser bestechlich war, sondern weil er bestochen hatte. Dirceu hatte mit Schwarzgeld im Parlament die Stimmen zusammengekauft, die nötig waren, um die rechtliche Grundlage für Lulas Sozialpolitik zu schaffen. Anders gesagt: Ohne Korruption hätten 40 Millionen Brasilianer und Brasilianerinnen in den acht Jahren von Lulas Regierung die Armut nicht überwinden können.

Korruption ist das Schmiermittel lateinamerikanischer Politik, und das hat tiefe historische Wurzeln. Die Region ist bis heute vom spanischen Vorbild geprägt. Die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht vor 200 Jahren war nicht die Unabhängigkeit der Ureinwohner von den Eroberern, sondern die der Kolonisatoren von ihrer Mutter.

Diese spanischstämmige Oligarchie hat das mitgebrachte Sozial- und Wirtschaftsmodell einfach auf die neuen Staaten übertragen: Der Patrón, der auf der Hacienda bestimmt, ist das Vorbild heutiger Präsidialdemokratien. Das Volk kuscht und bekommt dafür die Brosamen ab, wie seinerzeit die Knechte. Man lebt für den Patrón und gleichzeitig von den Wohltaten, die er verteilt, wie es ihm gefällt.

Selbstherrliche Bestimmer

Bis heute nennt man in Lateinamerika Regierungsfunktionäre nicht „öffentliche Bedienstete“ – also Diener des Gemeinwohls. Man nennt sie „Autoridades“: diejenigen, die selbstherrlich zu bestimmen haben.

Bei einem Regierungswechsel tauscht der Präsident nicht nur die Minister und hohen politischen Beamten aus, sondern alle – bis hinunter zum Briefträger und Müllmann. Dieses System der Klientel- und Vetternwirtschaft ist so allgemein akzeptiert, dass selbst die kleinsten Parteifreunde eines Gewählten das Recht auf einen Staatsjob zu haben glauben.

Es ist längst üblich geworden, dass die Gattinnen von Präsidenten zu Ministerinnen ernannt (bis Anfang dieses Jahres in Guatemala und aktuell in El Salvador und Nicaragua) oder Nachfolgerinnen des Ehemanns im höchsten Staatsamt werden (wie in Argentinien), oder es zumindest versuchen (wie in Guatemala und Honduras). Fast niemand in Lateinamerika stört sich daran.

Und auch ein anderes, noch schlimmeres Erbe kam aus Spanien: So, wie die Franco-Diktatur Vorbild der lateinamerikanischen Militärregimes der 1960er bis 1980er Jahre war, diente danach der in Madrid ausgehandelte Übergang zur Demokratie als Blaupause auf der anderen Seite des Atlantiks. Wie in Spanien wurde kein Scherge der Diktatur zur Rechenschaft gezogen. Die Demokratie bekam als Fundament das Unrechtssystem der Straffreiheit. In diesem Jahr noch wurde im demokratischen Spanien der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón mit einem Berufsverbot bestraft, weil er angeordnet hatte, Massengräber aus der Zeit der Franco-Diktatur zu öffnen.

Mörder sind angesehene Leute

Dass Argentinien, Chile und ein bisschen auch Guatemala Jahrzehnte später dann doch noch mit der Aufarbeitung ihrer dunklen Geschichte begannen, lässt immerhin hoffen. Die drei Länder sind die Ausnahme. In der Regel sind die Massenmörder von gestern bis heute angesehene und einflussreiche Politiker oder Wirtschaftsbosse.

Wer bereit ist, über Mord und Totschlag einfach hinwegzusehen und dies dann auch noch einen geordneten Übergang zur Demokratie nennt, der kann sich über ein paar unterschlagene Millionen nicht aufregen. Zumal das zugrunde liegende System der Straffreiheit genauso Voraussetzung für eine totale Vergangenheitsamnesie ist wie für die Korruption.

Auf der Hacienda war der Patrón an kein Gesetz gebunden – er war das Gesetz, die „Autoridad“. Dasselbe Gesellschaftsmodell findet sich bis heute in den Präsidialverfassungen Lateinamerikas, im Selbstverständnis der Präsidenten und in der politischen Kultur. Checks and Balances sind, wenn überhaupt, dann nur rudimentär vorhanden.

Die Staaten sind zwar formale Demokratien, die Regierungen werden gewählt. Republiken im Sinne einer res publica aber, in denen der Staat das Gemeingut aller ist, das sind sie noch lange nicht.

Auch wenn es wie ein Widerspruch in sich selbst klingen mag: Lateinamerikanische Staaten sind am ehesten so etwas wie Feudaldemokratien, in denen der Feudalherr zwar gewählt wird, danach aber das Land als sein Eigentum verwaltet. Was in einer Republik Korruption genannt wird, ist in dieser lateinamerikanischen Staatsform eine Selbstverständlichkeit. Warum also nicht eine korrupte Partei wählen?

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Toni Keppeler
Auslandskorrespondent Mittelamerika
1956 im Hohenlohischen geboren. Hat beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen Journalismus gelernt und dort als Redakteur fast zehn Jahre lang ausgeübt. Danach war er vier Jahre Journalismusprofessor an der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador, acht Jahre Korrespondent für Mittelamerika und die Karibik für taz (Berlin) und Weltwoche (Zürich) und vier Jahre Auslandsredakteur beim Schweizer Nachrichtenmagazin Facts. Von 2006 bis 2009 bei der Reportage-Agentur Zeitenspiegel, zuletzt als Mitglied der Geschäftsführung. Er ist Dozent an der Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl in Reutlingen und der Burda Journalistenschule in Offenburg. 1987 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 2010 Mitgründer von latinomedia - Büro für Journalismus. Er betreut seither das latinomedia-Büro Tübingen und pendelt zwischen Deutschland und Lateinamerika.
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4 Kommentare

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  • D
    dop

    Man sollte doch bitte nicht von den Mexikanern sprechen, 1/3 hat Peña Nieto gewählt, es liegt abermals nach 2006 massiver Wahlbetrug vor! Aber die internationale "Gemeinschaft" schert sich einen Dreck um Mexiko, schon schütteln die ersten die Hände dieses korrupten Seifenoperpräsidenten. Wer mit offenen Augen durch soziale Netzwerke geht kommt garnicht vorbei an den tausenden Nachweisen der Wahlmanipulation der mex. Wahlbehörde IFE.

    Dazu kommen hunderttausende erkaufte und erzwungende Stimmen, wie auf etlichen Videos zu sehen ist, vor den Augen von der Polizei!

    Ganz zu schweigen vom Wahlkampf wo Peña Nieto millionen von Steuergeldern seines "ehemaligen" Bundesstaates Estado de Mexico für seinen Wahlkampf verschleudert hat, wo Televisa das Volk tagein tagaus belügt und verblendet.

     

    Man könnte meinen in Mexiko ist jede Hoffnung verloren, aber das dachten viele wenige zwischen 1933-1945 in Deutschland auch.

  • DR
    Dr. rer. Nat. Harad Wenk

    Man sollte noch hinzufügen, dass der Staat als verselbständigte und gleichzeitig gut geölte, stark "kooperierende" mächtigste soziale Maxschine (aus Menschen und dDingen), Mimfords "Megamschine", gedrde inSüdameerika wegen der exrtremnArmutaufgrundfd der nicht funktionoirenden abhängigren Marktwirtschadft, dieAufgabe der Reproduktion der GEsellschaft zu großenTeilen zumindest steuert.

     

    Und wo der "Wurm" so lange so tief drinstzt, hat es jede Reformund soga rEvolution extrem schwer, gegen die dan auch noch "reaktionären" Kräfte wwirklich etwas Besseres auf Dauer, GEGEN DIE USA und den Westen, auf die Beine zustellen.

     

    Soziale Maschinen sind wegen des Funktionsnotwendigkeit strukturell bestimmt und das ist "konversativ". Die SteureungüberBefelhsgewalt ("Staat") oder "Geld" (Wirtschaft") ist da manchmal ein wenig "scheinbar". Das siwehtamn auch an den Versicherungen, derMedizin, den Sozaisnbetrieben, der "Steuerung" stark "gemischt ist.

     

    Kaum etwas entgeht der Vergesellschaftung und da ist das ziemlich "krude" Staatsmodell, autoritär, ein Index dafür, wie wenig wirklich Demokratie so "zugelassen" und eingeübt wird.

  • M
    michat

    Ist es denn in Deutschland so anders? Die EU Richtlinien zur Korruption sind bis heute nicht umgesetzt. Die Täter der beiden Diktaturen konnten danach auch überwiegend weiter machen, siehe z. B. Filbinger. Ein Politiker wie Strauß konnte immense Vermögenswerte anhäufen. Unsere Politiker werden für ihr Wohlverhalten mit hoch dotierten Jobs in der Wirtschaft belohnt. Der einzige Unterschiedist, dass z. B. Briefträger bei Wahlsiegen der Opposition nicht ausgetausch werden. Die Jobs sind längst privatisiert und wegrationalisiert.

  • L
    leser784864

    Nach Lektüre des Artikels verstehe ich plötzlich vieles besser als zuvor, er erklärt die Zusammenhänge mit der Kolonialgeschichte sehr gut. Hinzuzufügen wäre vielleicht höchstens noch, dass Opposition zu solchen Zuständen in der Vergangenheit weniger parlamentarische O., sondern eher militärische Opposition als irgendwie "marxistische" Guerilla-Bewegung bedeutete. Und die waren oder sind dann aber wiederum oft selbst korrupt. Und dann gibt es noch das alte Erbe der Indianerreiche, wo ja auch immer nur Götter, Könige und Tyrannen autoritär herrschten und ihren Tribut einforderten.

     

    Empörend ist weiterhin, wie viele Diktatoren und Staatsstreiche Unterstützung bei konservativen und liberalen Parteien in den westlichen Demokratien fanden. Dieses Thema gehörte längst aufgearbeitet, FDP-Niebel dabei aktuellstes Beispiel.