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Debatte VorbilderKonfetti oder Sendepause

Kommentar von Nora Bossong

Gibt es überhaupt noch etwas, das über uns selbst hinausgeht? Über unseren Umgang mit Vor- und Leitbildern.

„Welcome to hell“ hieß es zwar in Hamburg. Was aber, wenn der Himmel nicht mehr als ein elysisches Facebookfoto bereithalten soll? Foto: reuters

H agiografien sind Lebensgeschichten von Heiligen, von Märtyrern. Geschichten, die aufgeschrieben wurden, um anderen ein Beispiel zu sein. Es ist mit ihnen ähnlich wie mit den Zehn Geboten: Sie fungieren als moralisches Leitbild, man kann, wenn man möchte, noch Adjektive hinzufügen, etwa überhoben, restriktiv, unglaubwürdig. Doch es ist abgesehen von diesen Adjektiven mit ihnen ohnehin vertrackter als mit den Geboten, denn sie sind ärgerlicherweise keine abstrakten Paragrafen oder normativen Forderungen, sondern Lebensgeschichten.

Was auch immer an Hagiografien geschönt, hinzuerfunden, in religiös inspiriertem Eifer übertrieben sein mag, sie haben ein Leitbild etabliert, das uns keine göttlichen Handlungen vorführt, sondern Menschen und ihr Leben. Das ist Zumutung und Aufforderung zugleich. Konfrontiert mit so viel tugendhafter Überlegenheit, mögen sich manche denken: Bleibe ich doch lieber gleich zu Hause.

Das kann man bedauern, könnte die Welt derzeit doch ein paar mehr Heilige ganz gut gebrauchen oder zumindest Menschen, die sich nicht nur an sich selbst orientieren. Viele Hamburger hätten sich vorletzte Woche allerdings gewünscht, dass noch ein paar Leute mehr zu Hause bleiben. Pflastersteine, brennende Twingos – das ist mittlerweile hinlänglich beschrieben und ausgedeutet worden, und jeder weiß nun, dass eine Zwille eigentlich Präzisionsschleuder heißt, was sie aus dem Umfeld von Bart Simpson geradewegs in die Liga der hochkarätigen Schusswaffen bringt, aber auch den biblischen Diskurs streift: David streckte Goliath bekanntlich mit einer Schleuder, nicht mit einer schnöden Zwille nieder.

Viel Zuspruch hat die Gewalt in den vergangenen zehn Tagen nicht bekommen, und niemand hat bisher jemanden aus dem Schwarzen Block zum Heiligen erklären wollen. Zugegeben, die katholische Kirche lässt sich schon mit schlichten Seligsprechungen Zeit, doch die Frage ist auch weniger, ob sie in dreihundert Jahren eine Jeanne D’Arc unter den Rebellen erkennen wird (unwahrscheinlich, aber wer weiß), sondern eher: Wie erhaben, wie heldenhaft fühlten sich die Leute selbst?

Scheinheilig und heilig

Unabhängig von Blocks frage ich mich, wie sehr wir selbst eigentlich unsere eigenen Helden geworden sind. „Welcome to hell“ hieß es zwar – aber manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass der Himmel gar nicht so viel mehr als ein elysisches Facebookfoto bereithalten soll, das unglaublich viele Engel liken.

Wie erhaben, wie heldenhaft fühlten sich die Leute im Schwarzen Block in Hamburg?

Die Hamburger Ereignisse dienen hier nur als Beispiel. Allgemeiner gefragt: Wie absolut setzen wir alle uns? Gibt es überhaupt noch etwas, das über uns hinausgeht, das oberhalb der Proteste auf der einen Seite liegt – wie friedlich und kreativ diese Proteste zum Teil auch gewesen sein mögen –, und der illustren Spiele auf der anderen Seite, welche die Götter im Olymp, auch bekannt als Elbphilharmonie, aufführten?

Der Unterschied zwischen scheinheilig und heilig kann eben doch nicht allein so aufgeschlüsselt werden, dass man beides kommentarlos in die Tonne haut – das eine Bio, das andere Altpapier. Zumindest muss man sich der Frage stellen, wie eine Gesellschaft langfristig funktioniert, die nicht mehr auf eine übergeordnete moralische Ebene Bezug nehmen kann. Blendet man das aus, kann man zwar weiterhin den Zynismus der Elite kritisieren, läuft aber Gefahr, selbst in eine zynische Kritik abzugleiten.

Mit hinein spielt, profaner ausgedrückt, auch unser Umgang mit Vor- und Leitbildern in Zeiten der Du-schaffst-es-auch-Mentalität, die in ihrer nervtötendsten Form durch Castingshows in unsere Herzen und unseren Verstand getragen wird und dort allerhand Diskonebel versprüht. Wir verlernen, uns zu Idealen mit Distanz und auch Demut zu verhalten, sie als Richtschnur zu verstehen, nicht als eine baldige Version unserer selbst. The winner takes it all. Konfetti inklusive. Oder Sendepause.

Verdrehung der Deutungshoheit

Und nein, früher war auch nicht alles besser. Vor zwanzig Jahren, in meiner Mittelstufenzeit, als es noch keine Selfies gab und es hinnehmbar war, dass Topmodels eine andere Himmelssphäre bewohnten als wir, wollten wir zwar nicht heilig sein und auch nicht aufs Cover der Cosmopolitan, aber doch zumindest ein bisschen Helden spielen. Als besonders schick galt, wer eine Nacht in Polizeigewahrsam verbracht hatte, wobei diese Mutprobe am Ende mehr wert zu sein schien als der Protest selbst, etwa die Blockade eines Castor-Transports.

Dies führte zu einer seltsamen Verdrehung der Deutungshoheit: Ein Polizeibeamter war zwar nicht ernst zu nehmen, da ohnehin, so unsere fundierte spätpubertäre Einschätzung, nicht sehr beweglich im Kopf, aber en masse waren sie dann doch Gradmesser dafür, ob der zivile Ungehorsam Funken geschlagen hatte oder nicht, ob jemand von uns den Rang des Helden beanspruchen durfte oder eben doch nur Schmieresteher gewesen war.

„Ich möchte dem Regime, das mir meine Freiheit vorenthält, sagen: Ich habe keine Feinde. Weder die Polizisten, die mich überwacht, gefangen genommen und verhört haben, noch die Staatsanwälte, die mich angeklagt, noch die Richter, die mich verurteilt haben, sind meine Feinde. Ich akzeptiere eure Überwachung, euren Arrest, eure Urteile nicht, aber ich respektiere euren Beruf und eure Persönlichkeiten“, so hat es der vor wenigen Tagen in Haft verstorbene Intellektuelle Liu Xiaboo in seiner Friedensnobelpreis-Rede formuliert, eine Rede, die er nicht selbst halten konnte, da er bereits damals im Gefängnis saß. Er kritisierte auch noch aus seiner Haft heraus den autokratischen chinesischen Staat, tat dies mit einer unbeugsamen Zuversicht und dem Glauben an einer zu Demokratie und Freiheit fähigen Gesellschaft. Manchem mag das Bild des leeren Stuhls bei der Zeremonie in Erinnerung geblieben sein.

Es ist vielleicht das treffendste, ja angemessenste Bild in einer Zeit, in der Heiligenlegenden nicht mehr verfangen und wir uns selbst mitunter zu groß sehen: Eine Leerstelle, mit der wir uns nicht leichtfertig identifizieren können, die uns aber doch daran erinnert, dass wir auf moralische Vorbilder nicht verzichten können.

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