Debatte Verlockungen des IS: Die mörderische Utopie
Die Terrororganisation IS verspricht eine Gegenwelt, in der die Gesetze unseres Planeten aufgehoben sind. Für viele ein reizvoller Gedanke.
S obald sich das Gefühl des Entsetzens verflüchtigt hatte, verfielen alle in eine Art Schockstarre angesichts des Einbruchs einer anderen Welt in unsere. Man wusste, dass diese Welt existierte, aber sie beschränkte sich auf weit entfernte Länder wie Syrien, Irak, Pakistan und Afghanistan. Als wir sie dann in unseren Straßen und U-Bahn-Stationen wüten sahen, begriffen wir plötzlich, dass es keine Grenze mehr zwischen uns gab.
Diejenigen, die das Feuer eröffneten, waren unsere Ebenbilder, unsere Brüder und Nachbarn, Mitbürger, die die gleichen Schulen besucht und noch gestern mit uns getanzt und mit uns Bier getrunken hatten. All das erinnert an Horrofilme: Ganz gewöhnliche Menschen werden heimlich zu gefährlichen Aliens, ohne dass etwas in ihrem Erscheinungsbild ihre Metamorphose verraten hätte – bis zu dem Tag, an dem sie zur Tat schreiten.
Welche Umstände haben sie dazu gebracht, so schnell und so kaltblütig zum Töten und Sterben bereit zu sein? An dieser Frage scheiden sich die Expertenmeinungen: „Radikalisierung des Islam“ oder „Islamisierung der Radikalität“. Junge Franzosen oder Belgier mit „migrantischer Abstammung“ können „soziale“ Gründe (Frustration, Elend, soziale Ausgrenzung) haben, um zu Islamisten zu werden. In der arabischen Welt hat der Misserfolg des „Frühlings“ einige Tunesier, Ägypter, Syrer und Saudis glauben gemacht, dass es in der realen Welt keine Hoffnung gebe und dass diese Welt eventuell in die Luft gejagt werden müsse. Aber das erklärt noch nicht, warum Briten, Deutsche, Amerikaner, Tschetschenen, Dänen und Uiguren im selben Moment die Sirenen des „Islamischen Staates“ (IS) hörten.
Welchen neuralgischen Punkt hat die islamistische Organisation getroffen? Welche universelle Ansprache erlaubt es dem IS, sich in allen Sprachen, auf allen Kontinenten Gehör zu verschaffen? Kriminelle versuchen stets, ihre Taten zu vertuschen, Nicht so der IS, der seine Schreckenstaten inszeniert; sie sind sogar Hauptargument bei der weltweiten Rekrutierung. Denn der Durst nach Religion ist nicht immer die wichtigste Motivation derer, die sich engagieren.
Ein Universum für sich
Es gibt jedoch einen Subtext: „Kommt in unser Land, in dem die Gesetze dieses Planeten nicht mehr gelten. Ein Universum für sich. Dort werdet ihr ungestraft töten können, köpfen, vergewaltigen, vier Frauen heiraten und euch mit Sexsklaven vergnügen. Und außerdem: Ihr, die ihr eigentlich nichts seid, ein Krankenpfleger, ein Arbeitsloser, eine kleine bürgerliche Existenz, ein Dealer im Kiez – ihr alle werdet von heute auf morgen eine Macht erlangen, die euch erlauben wird, die ganze Erde zu terrorisieren. Alles im Namen Gottes, der dafür die Verantwortung übernimmt und euch Absolution erteilt.“
Gegen wen führt der IS Krieg? Natürlich gegen den Westen, gegen Juden, Christen, Kreuzritter und Ungläubige. Aber auch gegen alle, die nicht sind wie sie: gegen die Schiiten; die Sufis; die Sunniten verschiedener Rechtsschulen; gegen Saudi-Arabien, das sie an seiner Brust genährt hat; gegen den syrischen Präsidenten Assad, der sie aus dem Gefängnis geholt hat; die Kurden, die gegen Assad kämpfen; gegen Iran und die Hisbollah, die für sie kämpfen; den Irak, der vor ihnen eingeknickt ist; die Türkei, die sie hofiert hat; die Dichter, Journalisten, Homosexuellen, bis hin zu den unglücklichen Jesiden.
Das ist also der heilige Geist, den die Führer des IS ihren Mitgliedern anbieten: Eine Art „Gegenwelt“, wo das Schlechte zum Guten wird, der Schrecken zur Ekstase, das Verbrechen zur Wohltat und der Tod zur Erlösung. Zu unserer Gesellschaft verhält sich das wie die Antimaterie zur Materie. „Wir lieben den Tod, so wie ihr das Leben liebt“, lautet ihr Aufruf in bemerkenswerter Verkürzung.
Ja, der Tod ist der zentrale Stern des IS-Universums. Ohne das Risiko, zu sterben, und den Wunsch danach wären alle Schreckenstaten so fade wie ein Stierkampf ohne Töten. Die andere Welt duftet bereits nach dem Jenseits, nach dem Ende der Zeit, und jene, die dort leben, gehen dem sicheren, angeblich glücklichen Tod entgegen. Nach einem kurzen Leben im Universum des IS – neue „Familie“, Leben in Gemeinschaft der Gläubigen, die durch ein ehernes Gesetz zusammengeschweißt sind, und nach dem Mord an Ungläubigen aller Kategorien – tritt der Tod „auf dem Wege Gottes“ ein wie ein Lichtblitz, eine Erfüllung, ein hinreißendes Schauspiel, das geradewegs ins Paradies führt.
Gebietsverluste verschleiern
Verlockend, oder? Der Beweis ist angetreten, wie in einem mörderischen Kinderspiel, in dem „Gott mit uns ist“. Wie sonst hätte der IS ein hochgerüstetes Territorium, reich an Öl, erobern können, ohne auf Widerstand zu stoßen? Die Beweisführung wird schwieriger, wenn dieses Territorium unter den Angriffen der ganzen Welt immer kleiner wird. „Allein gegen alle, das ist der Beweis dafür, dass wir recht haben!“, erwidern die Führer des IS, die die Zahl ihrer Attentate in Europa vervielfachen, um ihre Gebietsverluste zu verschleiern.
In naher Zeit wird das Territorium des IS verschwinden, selbst wenn es anderswo Metastasen streut. Ein Teil des Sinai, eine kleine Region in Libyen, der Norden Nigerias oder Malis werden nicht ausreichen, um es zu ersetzen. Man braucht ein richtiges Land, um die Rekruten aufzunehmen, sie auszubilden und ihnen die Illusion zu geben, täglich nach anderen Gesetzen zu leben. Fällt das weg, ist die Utopie nicht mehr leibhaftig.
Gelöst ist das Problem dann aber keineswegs: Denn die Illusion „der Islam ist die Lösung“ wird nicht verschwinden. Und die Trumps, Erdoğans, Le Pens, Orbáns, Assads, Nethanjahus werden sich die Angst der Menschen zunutze machen. Und der Versuchung erliegen, sich von anderen abzugrenzen und Migranten zu jagen.
Es gab eine Zeit, als die Ideen und Analysen der Linken den Ton angaben. Heute herrschen krankhaftes Misstrauen und der Rückzug auf die eigene Identität vor. Ein schlechter Wind weht über den Planeten. Als Reaktion darauf entstehen neue Formen der Macht und der direkten Demokratie. Im Amerika von Bernie Sanders, bei Podemos in Spanien, sogar im Arabischen Frühling. All das braucht Zeit, um Veränderungen zu bewirken und den Wind endlich in eine andere Richtung wehen zu lassen.
Aus dem Französischen von Barbara Oertel
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