Debatte Türkei: Bröckelnder Boom
Um den Taksimplatz ist es ruhig geworden. Das neo-osmanische Projekt des Erdogan-Regimes droht dennoch zu scheitern – an der Ökonomie.
W enn man zum Taksimplatz kommt und dort die melancholisch-vertrockneten Bäumchen sieht, dann fragt man sich schon: „Wie bitte? Ein ganzes Land hat revoltiert – und alles für ein Stückchen Grün?“
So recht scheint noch niemandem diese doch höchst bemerkenswerte Anomalie des „Türkischen Frühlings“ aufgefallen zu sein: Zum ersten Mal in der Geschichte war es die Immobilienspekulation, die eine Nation in den Ausnahmezustand versetzte. Die Demonstranten, die am 28. Mai den Gezipark besetzten, protestierten gegen einen Akt der Stadtplanung – die von der Regierung gnadenlos forcierte Umgestaltung eines zentralen Platzes.
Der Bausektor war und ist das Zugpferd des türkischen Wachstums – einer der zahlreichen Aspekte, weswegen dieses Wirtschaftswunder der 2000er Jahre an den spanischen Boom der 1990er erinnert. Nicht nur Istanbul, die ganze Türkei macht den Eindruck einer riesigen Baustelle, die Ägäisküste ist inzwischen ein Mahnmal aus Zement.
Mit Allah und Milton Friedman
Dass die Referenzgruppe der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Premier Recep Tayyip Erdogan die neue „anatolische Bourgeoisie“ ist, darf inzwischen als bekannt gelten. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Bourgeoisie (im Gegensatz zur alteingesessenen in Istanbul) um eine Schicht von zunächst kleinen, heute auch großen Bauunternehmern, die sich um Gesetze und Steuern wenig kümmern. Sie sind aus dem Hochland gekommen, um beim entfesselten Boom dabei zu sein.
geb. 1947, lebt als Journalist in Rom. Auf Deutsch liegt vor: „Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: Eine Geschichte unserer Zukunft“.
Diese anatolische Bourgeoisie handelt nach den Glaubenssätzen der AKP, den religiös-islamischen wie den wirtschaftsliberalen im Gefolge der Chicago Boys um Milton Friedman. Sie stehen für einen konsumistischen Islamismus, einen Mix aus Koran und Shopping Malls, aus Allah und Neoliberalismus, dessen Wahlspruch sein könnte: „Betet und kauft“. Istanbul ist so zur Stadt mit der größten Anzahl von Malls weltweit geworden (mehr als hundert eröffnet und weitere zwanzig im Bau), mit oftmals gigantischen Dimensionen. Und eben dort, wo die traurigen Bäume vom Gezipark stehen, soll eine weitere Mall mit angeschlossener Moschee entstehen, beziehungsweise: eine Moschee mit angeschlossener Mall.
Für das AKP-Regime ist Istanbul der Dreh-und Angelpunkt. Die enorme Entwicklung der Stadt spiegelt die der ganzen Türkei: 1946 hatte Istanbul weniger als 1 Million Einwohner, noch 1972 waren es weniger als 3 Millionen. Heute ist Istanbul mit 15 Millionen Einwohnern die größte Metropole Europas.
Schaufenster Istanbul
Bürgermeister dieses Molochs war von 1994 bis 1998 eben jener Erdogan – seine Kritiker sagen, er habe nie aufgehört, es zu sein. Er lebt weiterhin in Istanbul, in die Regierungszentrale nach Ankara begibt er sich nur selten. Seine majestätischen Büros finden sich denn auch im Sultanspalast von Dolmabahçe am Bosporus. Der in Istanbul lehrende französische Urbanist Jean-François Perouse schreibt, „dass die AKP große Projekte für Istanbul plant, auf dass es zum spektakulären Ausdruck der wiedergefundenen Macht und Vitalität des Türkentums werde, ein hell erleuchtetes Schaufenster, das reiche Touristen und Investoren anlockt, eine Vitrine für die glorreiche türkische Vergangenheit, vor allem für das osmanische Imperium als Fundament der gegenwärtigen Ambitionen“.
Da ist es ausgesprochen, das Wort: „osmanisch“. 1923 war es das Projekt Mustafa Kemals, genannt Atatürk, einen laizistischen und am Westen orientierten türkischen Nationalismus zu konstruieren – weil der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und die Niederlage im Ersten Weltkrieg die Unfähigkeit des Islams demonstriert hätten, mit der Moderne Schritt zu halten. An Stelle dieses laizistischen und anatolischen Nationalismus Atatürks (der die Hauptstadt nach Ankara verlegt hatte) vertritt Erdogan einen sunnitischen, Istanbul-fixierten und osmanischen Nationalismus. Eben deswegen heißt das politische Projekt der AKP „neo-osmanische Strategie“.
Es geht darum, die Geschichte neu zu schreiben, und zwar unter dem Vorzeichen der Metropole Istanbul, die in ihrem ursprünglichen Glanz – den es so natürlich nie gegeben hat – erstrahlen soll. Dazu will die Regierung mehr als 200 „osmanische“ Gebäude wiederherstellen. Eines davon ist eben jene Kaserne aus dem Jahr 1806, die 1940 abgerissen wurde, um Platz für den Gezipark zu schaffen. Unter dem Park, in der U-Bahn-Station am Taksimplatz, ist ein Wandbild angebracht, das die Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmet II. feiert.
Planungen bis 2071
Istanbul als Finanzzentrale der gesamten ex-osmanischen Welt von Zentralasien bis an die Küsten Ostafrikas, das London des Islams, die Brücke zwischen Frankfurt und Dubai: Dazu braucht es all die geplanten pharaonischen Bauten, von der dritten Brücke über den Bosporus, den zwei Tunnels für Auto- und Bahnverkehr, dem neuen Kanal zwischen dem Marmara- und dem Schwarzen Meer, bis hin zum dritten Flughafen.
Um einen Eindruck vom Ehrgeiz des Erdogan-Regimes zu bekommen, reichen die Zahlen für das Luftkreuz: Kosten von 22 Milliarden Euro, avisierte 150 Millionen Passagiere im Jahr, zusätzlich zu den 60 Millionen der beiden bestehenden Flughäfen, und damit das Doppelte der Kapazität der fünf New Yorker Flughäfen (Kennedy, Newark, La Guardia und zwei andere in Connecticut bringen es auf 113 Millionen Passagiere jährlich). Der zeitliche Horizont ist dabei sehr weit gespannt: 2071 soll es so weit sein, zum 1.000. Jahrestag des Eindringens der Turkvölker in Anatolien 1071.
Deutlichen Gegenwind haben diese Megaplanungen Erdogans und seiner AKP durch die Protestierenden vom Gezipark im Mai und Juni erfahren; und in den vergangenen zwei Monaten ist den Hoffnungen auf eine neo-osmanische Restauration durch die ökonomische Entwicklung wie durch die politische im Nahen Osten ein wohl schon tödlicher Schlag versetzt worden, wie im zweiten Teil dieses Beitrags gezeigt werden soll.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste