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Debatte Sexueller MissbrauchDu Opfer!

Simone Schmollack
Kommentar von Simone Schmollack

Viel wurde im Sommer über sexuelle Gewalt an Kindern debattiert – fast folgenlos. Die Stigmatisierung der Opfer ist geblieben und damit das Schweigen.

Opfer sind keine Helden. So wird das gesehen hierzulande Bild: dpa

W as ist geblieben von der im Sommer heftig geführten Debatte über Pädophilie, sexuelle Gewalt an Kindern und Machtmissbrauch? Die Grünen kostete sie wertvolle Stimmen, und PolitikerInnen zwang sie zum Rücktritt.

Danach aber passiert nicht mehr viel. Es scheint, als sei mit dem Wahlkampf auch der Kampf um den Schutz von Kindern eingestellt worden. Als interessiere das jetzt niemanden mehr – nicht die Parteien, nicht die neue Bundesregierung, nicht die Medien. Wer redet heute von den Opfern? Wer redet mit ihnen?

Das tun vor allem diejenigen, die das vorher auch schon getan haben: Beratungsstellen, sogenannte Missbrauchsbeauftragte, Therapeuten. Sie alle hatten gehofft, dass nach dem öffentlichen Diskurs mit den Opfern anders umgegangen wird. Dass die Sensibilität für sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen und für die zugrunde liegenden Strukturen wächst. Und dass diese Strukturen nachhaltig zerschlagen werden.

Zwar ist das Problem inzwischen bekannter als früher und auch denen bewusst geworden, die es bislang nicht wahrhaben wollten. Ansonsten aber ist kaum etwas passiert. Die Zahl sexueller Übergriffe an Minderjährigen ist so hoch wie zuvor. Jedes Jahr werden 12.000 bis 16.000 Taten angezeigt. Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig spricht von 100.000 Fällen pro Jahr.

Unterfinanziertes Beratungsnetz

Aber das Beratungsnetz ist nach wie vor löchrig und chronisch unterfinanziert, ländliche Gegenden sind unterversorgt. Angebote für Jungs und Männer sowie Menschen mit Behinderungen sind noch immer rar. Opfern, die außerhalb der katholischen Kirche finanzielle Entschädigung beantragen, um ihre teuren Therapien bezahlen zu können, werden keine Geldleistungen angeboten. Dafür Massagesessel, Gehhilfen, Zahnspangen.

Die Opfer fühlen sich genauso unbeachtet, gedemütigt und alleingelassen wie all die Jahrzehnte zuvor. Und das, nachdem medial so groß angelegten runden Tisch, an dem drei Ministerinnen saßen und am Ende „zahlreiche Erfolge“ verkündeten.

Und was plant die künftige schwarz-rote Bundesregierung? Sie will immerhin die strafrechtliche Verjährungsfrist für Missbrauch verlängern; künftig soll die Verjährung nicht vor dem 30. Lebensjahr der Opfer einsetzen. So steht es im Koalitionsvertrag. Da steht auch, dass die „Tätigkeit“ des unabhängigen Beauftragten für Fragen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen gesichert ist. Die „Tätigkeit“, nicht die Stelle. Was heißt das? Wird der Beauftragte demnächst in irgendein Referat im Familienministerium „eingeordnet“? Verliert er damit seine bisherige Unabhängigkeit? Schweigen.

Irgendwie unzurechnungsfähig

In Deutschland gibt es schätzungsweise 9 Millionen Missbrauchsopfer. Das sind mehr Menschen, als zusammen in Berlin, München, Köln, Hamburg, Stuttgart und Frankfurt am Main wohnen. Sie leben unter und mit uns, sie sind Freunde, PartnerInnen, NachbarInnen, KollegInnen. Von vielen wissen wir nicht, was ihnen widerfahren ist. Die meisten haben ihr Schicksal fest in sich verschlossen, sie schweigen. Nur rund 1.200 von ihnen haben sich öffentlich geoutet. Man hätte sich gewünscht, dass es mehr werden, dass Missbrauch so viele Gesichter bekommt, wie er hat. Aber das ist nicht passiert. Warum nicht?

Opfer sexueller Gewalt zu sein geht noch immer mit Stigmatisierung einher. Daran hat die Debatte seit 2010, als massenhaft Fälle in kirchlichen Einrichtungen bekannt wurden, nichts geändert. Missbrauchsopfer gelten gemeinhin als dauerhaft geschädigt, als irgendwie nicht zurechnungsfähig. Opfer zu sein ist ein Makel, den man nicht mehr loskriegt.

Das erleben diejenigen, die den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt haben, immer wieder. Viele arbeiten in Beratungsstellen und anderen Hilfseinrichtungen, sie sind TraumaberaterInnen und TherapeutInnen. Sie sagen häufig Sätze wie: „Seit ich mich geoutet habe, werde ich nicht mehr so ernst genommen wie vorher.“ Missbrauch bedeutet „lebenslänglich“ – ohne selbst schuldig geworden zu sein.

Diese Herabwürdigung von erlebtem Leid wird auch nicht aufgehoben durch die Tatsache, dass es selbst an Elitebildungseinrichtungen wie dem Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule massenhaft Missbrauchsfälle gab. Im Gegenteil.

Die Opferhierarchie

Die AbsolventInnen dieser Schulen sind heute vielfach erfolgreiche PolitikerInnen, SchriftstellerInnen, ManagerInnen. Und sie gehen – bis auf ganz wenige Ausnahmen – nicht damit an die Öffentlichkeit. Denn hierzulande gilt das ungeschriebene Gesetz: Wer erfolgreich sein will, darf kein Opfer sein, auch nicht gewesen sein. Denn Opfer sind diejenigen, die es nicht geschafft haben, die es ziemlich sicher nie schaffen werden.

Es gibt so etwas wie eine unausgesprochene Opferhierarchie: Ganz oben stehen die EliteschülerInnen, dann kommen die Opfer aus den kirchlichen Einrichtungen, danach die familiären Opfer und am Schluss die aus den Heimen. Die Heimkinder haben schon lange vor 2010 versucht, sich Gehör zu verschaffen. Aber es ist ihnen nicht gelungen, niemand wollte sich damit befassen. Nicht die Politik, nicht die Parteien, nicht die Medien.

Das legt den Verdacht nahe, dass es zu der breit geführten Debatte nicht gekommen wäre, wären nicht die Opfer des renommierten Canisius-Kollegs aufgestanden.

Mittlerweile versuchen sich andere Gruppen in den Diskurs einzuschalten, Gruppen, die am Rande der Gesellschaft stehen und in die Mitte drängen. Rechtsextreme beispielsweise nutzen die Debatte, in dem sie auf ihren Autos mit drastischen Forderungen für eine „Todesstrafe für Kindesschänder“ werben. Das ist Missbrach mit dem Missbrauch. Den Rechtsradikalen geht es dabei nicht um die Opfer, sondern um das Verbreiten einer inhumanen wie schlichten Ideologie. Die Opfer werden instrumentalisiert.

Dagegen wehren sie sich. Eher im Verborgenen und weniger öffentlich. Denn sie haben verstanden, dass eine kurzzeitig laut geführte Debatte nicht unbedingt erfolgversprechend sein muss.

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Simone Schmollack
Ressortleiterin Meinung
Ressortleiterin Meinung. Zuvor Ressortleiterin taz.de / Regie, Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.
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49 Kommentare

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  • den debattenvogel hat jetzt zeit-online abgeschossen, mit folgenden vermerk

    "Entfernt. Ihrer Argumentation liegen Überlegungen zugrunde, die nicht belegt werden können, die aber dazu dienen, strafbare sexuelle Handlungen (gem. §176 StGB) mit Minderjährigen zu legitimieren. Die Redaktion/ls"

    http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-10/paedophilie-kinderschuetzer?commentstart=57#cid-3243299

    im entfernten stand nichts unanständiges zu lesen, ich schwör! nur, dass es auch einvernehmlichen intergenerationellen sex geben könnte.

    • 7G
      774 (Profil gelöscht)
      @christine rölke-sommer:

      Das Anti-Mißbrauchsgesetz wurde von Gott gegeben. Es ist jetzt für alle Zeiten undebattierbar. Auch wenn wegen der guten Ernährung das Erwachsenenstadium schon viel früher erreicht wird.

      • G
        gast
        @774 (Profil gelöscht):

        Wie bitte ??? was wollen Sie wirklich sagen ?

  • eigentlich könnte mensch den artikel ja zum anlaß nehmen, mal darüber nachzudenken und zu red-schreiben, was schief lief, mindestens, in der debatte (die aus meiner sicht keine war). statt ständig die welt in contras und pros einzuteilen, also die inner- wie außen-staatliche freund-feind-erklärung zu bedienen.

    mich frustriert, dass das nicht durchbrochen wird. dass die gesellschaftlichen verhältnisse, welche sexualisierte gewalt gegen so ziemlich alle hervorbringen, nicht thematisiert werden dürfen. dass stattdessen jede*r, wo die schamgrenzen der wilhelminischen großmutter nicht teilt/annehmen mag, ins lager der pros katapultiert wird.

    mir kommt das vor wie ein rückfall ins ausgehende 19.jhdt, als man (wer eigentlich?) begann, die episteme 'pädophilie' zu etablieren. die 'erfindung' des homosexuellen fand übrigens etwas früher statt, aber nicht sehr viel früher. aber das nur nebenbei. wie auch nur nebenbei angemerkt, dass noch das preußische landrecht ein (mindestens 1) drittes geschlecht kannte; im BGB von 1900 war dieses dritte geschlecht verschwunden. stattdessen gab es die ehe für jeder-mann (nicht frau, aber auch das nur nebenbei).

    kurzum: ich frage danach, welche gewaltverhältnisse durch die konzentration auf 'pädophile verstrickungen' zum verschwinden gebracht werden sollen. und ich frage danach, welche gewalt sich selbst anzutun mittlerweile den je einzel*innen zugemutet wird. sei es als selbst- wie fremdverordnete askese, sei es als selbst- wie auch dankbar entgegengenommene fremd-viktimisierung.

    • F
      F.A.
      @christine rölke-sommer:

      Teil2

      Luhmann hat in "Das Erziehungssystem der Gesellschaft" analysiert, dass Erziehung/Bildung dann notwendig wurde, als die Berufe der VÄTER nicht mehr von ihnen an die SÖHNE weitergegeben werden konnten. Weil die Berufe komplizierter wurden.

       

      Also auch: Willkommen im Fortschritt!

       

      Dass Menschen das aushalten, nun es gibt uns also halten wir es aus. Sie haben dennoch Lebensschmerz?- Die Gesellschaft stellt sich darauf ein- mit dem was Gesellschaft so anzubieten hat:

      System für System hätten wir da verschiedene Geschmacksrichtungen im Angebot:

      -Buddhismus statt Evangelismus

      oder Atheismus statt Theismus

      -Protestpartei statt Volkspartei

      oder APO statt Partei

      -Waldorf statt staatlich

      -Ethik statt Moral

      -Wirtschaftlich: Haben oder Sein, Paypal statt Bares, Kreditkarte statt Bitcoin

       

      Gesellschaft ist absolut, sie umgibt Sie zur Gänze und sie durchdringt Sie zur Gänze.

      Sollte es in ihrem Gehirn noch ein Gallisches Dorf geben, das nicht aufhört, Widerstand zu leisten...bewahren Sie es sich.

       

      Solange man auf Machtmissbrauch deutet, kann man nicht über Machtanwendung sprechen. Sie wird damit unsichtbar bzw. implizit legitimiert.

      • @F.A.:

        ich bewahre, in hirn und herz.

    • F
      F.A.
      @christine rölke-sommer:

      Teil1

      Willkommen in der funktional differenzierten Gesellschaft. Wobei das willkommen ironisch gemeint ist, Sie werden natürlich nicht gefragt.

      Eigentlich steckt in dem Wort doch ein Übergriff: Willkommen!

      Eine Aussage zu jemandem, der damit eingeschlossen wird, ohne zu dem Zeitpunkt zu wissen, ob die Person das will.

      Dazu eine Unterstellung: Will-kommen!

      Nicht: Will-das-du-kommst!

      Und auch nicht:Willst-du-kommen?

       

      Sie sind erwachsen, Fr. Rölke-Sommer?

      Ich weiß etwas über Sie: Sie sind erwachsen, also sind sie zur Schule gegangen. Das ist ja Pflicht.

      Wurde an ihrem ersten Schultag gesagt: Willkommen an eurer neuen Schule?

      Oder wurde gesagt: Ab jetzt müsst ihr jeden Tag kommen, sonst holt euch die Polizei!

       

      Und jetzt als Erwachsene - unterstützen Sie Schupflicht und legitimieren Sie sie?

      Haben Sie die gesellschaftliche Anforderung an Menschen, gebildet zu sein für sich übernommen? Schicken Sie ihre Kinder mit gutem Gewissen zur Schule?

      Muss ja. Geht nicht anders.

      • @F.A.:

        @F.A., Sie schreiben: "Solange man auf Machtmissbrauch deutet, kann man nicht über Machtanwendung sprechen. Sie wird damit unsichtbar bzw. implizit legitimiert."

         

        Frau Schmollack folgt in ihrem Artikel der These, dass trotz der öffentlichen Debatte, die 2010 einsetzte, Missbrauchsopfer immer noch stigmatisiert werden.

         

        Ich gehöre zu denen, die sich dafür stark machen, das zu ändern. Insofern würde mich interessieren, ob Sie konkrete Vorschläge haben, wie sich Missbrauchsbetroffene weiter ermächtigen können, damit diese Etikettierung schwindet.

         

        MfG,

        Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

        • @Angelika Oetken:

          frau Schmollack folgt der these, dass opfer von was auch immer stigmatisiert werden. vor allem dann, wenn sie sich weigern, weiterhin als opfer zu fungieren.

          wie wir das ändern können?

          durch veränderungen in den geschlechterverhältnissen. durch mehr slut-walks, beispielsweise. durch mehr appelle für prostitution, beispielsweise - und eben nicht gegen.

          durch reden über macht- und ihre anwendung.

          • @christine rölke-sommer:

            Ich kann Ihnen da leider argumentativ nicht folgen. "Appelle für Prostitution", "mehr slutwalks", wie soll das Mitmenschen davon abhalten, Missbrauchsopfer zu stigmatisieren?

             

            MfG,

            Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

            • @Angelika Oetken:

              nun, per verbot geht es nicht. also müssen 'opfer' sich über das stigma erheben.

              kann persönlich schmerzhaft sein. scheint mir dennoch notwendig, um endlich den gedanken aus der welt zu bringen, ein 'opfer' sei an irgendwas schuld.

              • @christine rölke-sommer:

                "nun, per verbot geht es nicht. also müssen 'opfer' sich über das stigma erheben.

                kann persönlich schmerzhaft sein. scheint mir dennoch notwendig, um endlich den gedanken aus der welt zu bringen, ein 'opfer' sei an irgendwas schuld."

                 

                Wenn ich das, was Sie vorher geschrieben haben, damit in Bezug setze, würde das bedeuten, dass sich Ihrer Meinung nach Missbrauchsopfer, die sich Slutwalks anschließen oder sogar prostituieren dadurch über ihr Stigma erheben?

                 

                Das will mir nicht so ganz einleuchten.

                 

                MfG,

                Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

                • @Angelika Oetken:

                  und mir will nicht einleuchten, wieso ich mich um respekt von leuten bemühen soll, welche meinen, 'opfer' (welche auch immer) herabwürdigen zu dürfen. weil: es ist kein zeichen geistiger gesundheit, gut angepaßt an eine kranke gesellschaft zu sein.

                  • @christine rölke-sommer:

                    Das Phänomen der "Stigmatisierung" sehe ich gar nicht so sehr als vorsätzliche Abwertung von Missbrauchsopfern an, sondern als mehr oder minder verzweifelten Versuch von Menschen, Erinnerungen an eigene Traumata, Demütigungen, Entwertungen und Ängste abzuwehren.

                     

                    Missbrauchsopfer und andere die - scheinbar? - marginalisiert werden sollten das deshalb auf keinen Fall persönlich nehmen. Bzw. nicht direkt mit ihren individuellen Eigenschaften in Beziehung setzen.

                     

                    Aber: mich interessiert trotzdem wieso sie davon ausgehen, dass "Slutwalks" und "Prostitution" Missbrauchsopfern helfen, sich über das Stigma zu erheben.

                     

                    MfG,

                    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

                    • @Angelika Oetken:

                      um genau zu sein: ich schrub "mehr appelle für prostitution".

                      der slutwalk thematisiert die bürgerliche lüge (zieht euch nicht so schlampig, nutttig an, dann werdet ihr auch nicht vergewaltigt). der appell für prostitution dito (seid brav und heiratet, dann müßt ihr's nicht für geld machen).

                      doch, die stigmatisierung ist eine vorsätzliche, weil eine systematische. auch wenn die, wo mitmachen, nicht wissen (wissen wollen), wie man sie dazu gebracht hat.

  • "Immer wieder diese parallel-wertende laiensphäre!"

     

    Auf keiner Veranstaltung hat irgendwer die/der zu Ihren KollegInnen gehört, einen ähnlich maßregelnden Ton angeschlagen wie ich es von Ihnen gewohnt bin.

     

    Aber vielleicht ist es notwendig, dass jemand mal deutlich sagt, wo es lang geht. Was richtig und falsch ist. Und auch mal Kopfnüsse verteilt. Das traue ich Ihnen zu (natürlich nur im übertragenen Sinne...)

     

    Denn eine Ihrer Stärken als Kommentatorin ist es, dass Sie auch verdeckte Fehler finden. Und sich von Niemandem davon abhalten lassen, das sehr deutlich zu formulieren.

     

    Viele Menschen würden vor so etwas zurückschrecken. Sie nicht.

     

    MfG,

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

    • @Angelika Oetken:

      was soll ich dazu sagen? außer, dass auch mir hin+wieder der eine+andere ton recht ungewohnt ist.

      und, ja, ich finde es wünschenswert, dass man weiß, mit welchen begriffen/termini man hantiert.

  • A
    amayer

    Ein Artikel, der den Nagel auf den Kopf trifft: Wenn sich mehr Menschen zeigen könnten oder wollten, die betroffen sind, könnte man das Thema in der Politik nicht mehr derart verschleppen. Schließlich sind es Millionen, die als Kinder oder Jugendliche sexuelle Gewalt erlebt haben und irgendwie damit leben müssen.

     

    Mir hat es mein Selbstbewusstsein wiedergegeben, nicht mehr darüber zu schweigen, dass ich auch zu denen gehöre, die dran glauben mussten. Freilich habe ich oft auch erlebt, wie die Maschinerie im Kopf losging, all die Projektionen, mit denen man als Opfer konfrontiert wird (andere Kommentatoren haben das schon gut beschrieben). Aber ich weiß ja, dass das mit mir nichts zu tun hat. Die Reaktionen haben im Wesentlichen damit zu tun, wie das Gegenüber selbst mit Ohnmachtsgefühlen umgehen kann und am allermeisten damit, ob er oder sie (mit)betroffen ist und wie damit umgeht. Das ist ja auch ganz interessant zu wissen.

    • @amayer:

      "Die Reaktionen haben im Wesentlichen damit zu tun, wie das Gegenüber selbst mit Ohnmachtsgefühlen umgehen kann und am allermeisten damit, ob er oder sie (mit)betroffen ist und wie damit umgeht. Das ist ja auch ganz interessant zu wissen."

       

      Ja, das ist der Kern. Toll, dass Sie darauf hinweisen.

       

      Seit ich mir dies Phänomen klar machen kann, vergeude ich im Kontakt zu anderen Menschen viel weniger Energie. Ich bezeichne das Prinzip als "den-Ball-zurückwerfen".

       

      Innerhalb einer fundierten Psychotherapie sind zwei Punkte wesentlich, "Selbst- und Fremdbild" und "Nähe- und Distanzregulation". Dazu gehört es auch, einen gesunden Abstand zu den Bewertungen Anderer einzunehmen.

       

      Traumatisierten Menschen, die auf der Suche nach effektiver Unterstützung sind, kann ich diese Homepage sehr empfehlen:

       

      http://www.degpt.de/

       

      Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

  • A
    Adi

    Situation erkannt aber nicht verstanden. Es ging zu keinem Zeitpunkt um die Opfer oder um eine Verbesserung ihrer Situation. Es ging darum, mit dieser Diskussion weitere rechtsstaatliche Grundsätze aus dem Weg zu räumen und das Volk mit der Angst vor Kinderschändern dazu zu bekommen, nicht gegen den Entzug demokratischer Rechte aufzustehen. Im wesentlichen wurden Grundlagen für die bedingungslose Überwachung installiert, die dann jederzeit nicht nur für Kinderschänder sondern für jeden und alles gelten können. Im Internet wurde die Unschuldsvermutung de facto umgekehrt. Dass sich all die Engagierten damals auch noch vor den Karren haben spannen lassen, macht das alles noch viel bitterer ...

    • @Adi:

      was die "Unschuldsvermutung" angeht: sie ist ein wichtiger Grundsatz. Allerdings ist unser Rechtssystem dazu übergegangen, speziell Missbrauchsopfern so lange zu unterstellen, dass ihre Aussagen bzw. Erinnerungen nicht der Realität entsprechen, bis eindeutig das Gegenteil bewiesen ist. Siehe dazu: http://www.kindergynaekologie.de/html/kora82.html

       

      MfG,

      Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

       

      P.S. bitte nicht verbittern. Falls Sie Ihre Expertise betroffenenpolitisch einsetzen möchten, freue ich mich über eine Mail. Meine Kontaktdaten finden Sie im Internet

      • @Angelika Oetken:

        immer wieder diese parallel-wertende laiensphäre!

        zuallererst ist die unschuldsvermutung ein strafprozessualer grundsatz, welcher besagt, dass jeder beschuldigte/angeklagte mensch als unschuldig zu gelten hat und zu behandeln ist, solange es kein rechtskräftiges urteil gibt. für zeug*innen gilt die unschuldsvermutung in diesem sinne nicht. diese sollen vielmehr durch bericht dessen, was sie selbst erlebt haben, zur wahrheitsfindung beitragen - innerhalb gewisser grenzen (so muß sich keine zeugin* selbst einer straftat bezichtigen).

        unser rechtssystem ist übrigens zu garnichts übergegangen. sondern es hat damit zu tun, immer schon, dass politik ansprüche von opfern lieber abwehrt als anerkennt, wobei es nahezu egal ist, ob opfer überlebende von kz, massaker, folter, sexualisierter gewalt oder anderer katastrophen sind. als letztes beispiel dafür sei an die abweisung der klage der angehörigen/überlebenden von Kundus erinnert. und an die nicht-anerkennung des klimaflüchtlings aus Kiribati in Neuseeland.

        • @christine rölke-sommer:

          Oh, da waren Ihre KollegInnen auf Fachtagungen aber anderer Meinung.

           

          Vielleicht bedarf deren Perspektive aber nur Ihrer Korrektur.

           

          Darf ich Sie bei weiteren Planungen als Referentin vorschlagen?

           

          MfG,

          Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

          • @Angelika Oetken:

            so so, waren sie. in bezug auf was denn?

      • F
        F.A.
        @Angelika Oetken:

        Bei dem Thema Überwachung, was ja eher ein gesamter Komplex ist, gibt es keine "Unschuldsvermutung":

        Zum Beispiel kann man unschuldig sein, nicht eine anonyme Beratungshotline angerufen zu haben.

        Oder man kann unschuldig sein, nicht depressiv zu sein.

        Diese Informationen können aber auch unabhängig von Schuld oder Unschuld in anderen Kategorien bewertet werden, und zwar von unbekannter Seite aus: Risiko oder Geld oder beides oder weiteres.

        Das muss man nicht einmal bemerken, das dies schon geschehen ist, bis...lesen Sie selbst:

        http://www.thestar.com/news/canada/2013/11/29/border_refusal_for_depressed_paraplegic_shows_canadaus_security_cooperation_has_gone_too_far_walkom.html

         

        Gruß

        F.A.

      • F
        F.A.
        @Angelika Oetken:

        1.Vorratsdatenspeicherung ist ein gravierender Eingriff in die individuelle Datenhoheit-für alle. Auch für Täter, auch für Opfer.

        2. Unschuldsvermutung ist ein wichtiger Grundsatz.

        3. Kein aber.

        4.Der von Ihnen gesetzte Link ist interessant. Nirgends wird in diesem Aufsatz behauptet, dass speziell die Erinnerungen der Missbrauchsopfer angezweifelt werden. Sondern generell die Erinnerungen aller Beteiligten. Ich finde Ihre Emotionalisierung unangebracht und bedenklich, wenn dieses "Allerdings" andeuten sollte, dass Sie die VDS-Politik aus diesem Grund unterstützen.

         

        Unbekannterweise, F. A.

        • @F.A.:

          "Nirgends wird in diesem Aufsatz behauptet, dass speziell die Erinnerungen der Missbrauchsopfer angezweifelt werden. Sondern generell die Erinnerungen aller Beteiligten"

           

          Genau das ist das Problem. Bei "Missbrauch" gibt es ja nur im Ausnahmefall die üblichen Spuren oder Zeugenaussagen.

           

          Im Glaubhaftigkeitsgutachten wird erstmal die Glaubwürdigkeit der Aussage/Erinnerung bewertet. Und dann überprüft, inwieweit sie durch Einflüsse im späteren Leben entstanden sein könnte. Als da wären: Lesen von entsprechenden Geschichten, Gespräche, Aufsuchen einer Beratungsstelle, Selbsthilfegruppe, Besuch von entsprechenden Foren, Psychotherapie usw.

           

          Also das, was von den Propagandeuren der "False-Memory-Bewegung" Missbrauchsopfern unterstellt wird.

           

          Nämlich, dass ihre Erinnerungen induziert, also nicht ihre eigenen seien.

           

          Das bedeutet in der Praxis, dass einem Opfer, das mit dem Gedanken spielt, die Tat anzuzeigen, nur davon abgeraten werden kann, sich professionelle therapeutische Hilfe zu holen.

           

          Und dass es so schnell wie möglich Anzeige erstatten sollte. Ohne therapeutische Begleitung ist aber ein Prozess bzw. eine eventuelle Begutachtung schwer durchzustehen. Das macht es TäterInnen ja so leicht, sich ihrer Verantwortung zu entziehen.

           

          MfG,

          Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

          • F
            F.A.
            @Angelika Oetken:

            Die problematische Situation die Sie beschreiben entsteht aus einem Paradox zwischen Recht und Therapie.

            Das Recht ist in dem Fall zu keiner Änderung der Modalitäten in der Lage, sondern der eigenen Dogmatik verpflichtet.

            Auch die Wissenschaft kann sich davon nicht beeindrucken lassen. Die Gutachter sind in ihren Verfahren darauf angewiesen Validität herzustellen.

            Noch kann man Forschungsergebnisse wie die in ihrem Link (False-Memory gibt es und es lässt sich auch produzieren) zensieren oder ignorieren.

            Das Paradox fällt also in Gänze der Beraterzunft vor die Füße.

            Antwort kann wohl nur eine Steigerung der Professionalität sein: "Richtlinien für Begleitung während Tatermittlungen mit Blick auf

            Sicherstellung der Validität von Erinnerungen"

            • @F.A.:

              Richtlinien sind immer gut. Vor allem wenn sie das Ergebnis einer fachübergreifenden und soliden Diskussion sind.

              Und so formuliert, dass jeder Leistungserbringer sie befolgen und dessen Arbeitsprozess extern zu überprüfen ist.

               

              Letztlich gibt es ja Vorgaben, wie Glaubhaftigkeitsgutachten zu erstellen sind. Und das Dilemma was sich für Gutachter daraus ergibt, nämlich Glaubwürdigkeit der Aussage verus Ausschließen potentieller Einflussgrößen habe ich ja oben kurz erläutert.

               

              Das größte Problem bei "Missbrauchsprozessen" ist aber neben der Neigung und Fähigkeit von TäterInnen ihre Mitmenschen massiv zu täuschen, die schwierige Beweislage. Die zu einem großen Teil zwei Defiziten geschuldet ist:

               

              a) es gibt zu wenig Stellen, die bei den Opfern physische Beweise sichern können

              b) das Wissen, wie man Hinweise aufnimmt, dokumentiert und weitergibt ist bei allen, die mit Kinden zu tun haben unzureichend. Mit wenigen Ausnahmen.

               

              MfG,

              Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

  • G
    Gast

    „Seit ich mich geoutet habe, werde ich nicht mehr so ernst genommen wie vorher.“ Missbrauch bedeutet „lebenslänglich“ – ohne selbst schuldig geworden zu sein.

     

    Leider trägt auch Therapeutenlogik dazu bei: Wer missbraucht ode vergewaltigt wurde (warum fallen die gewaltbehafteten Taten eigentlich so oft unter den Tisch?), muss eine Persönlichkeitsstörung haben (noch nie was von Resilienzforschung gehört?), darum neigt er/sie zu Hochrisikoverhalten, darum hat er/sie die Situation selbst hervorgerufen. Ein Zirkelschluss und in der dt. Rechtssprechung nicht erlaubt!

     

    Oder was soll frau von Frauenzentren halten, in dessen Selbsthilfegruppen sich vergewaltigte Frauen zusammen mit Borderlinern mit falschem Opfersyndrom wiederfinden, wobei letztere natürlich die Diskussion an sich reissen? Reserven über Reserven!

    • G
      Gast
      @Gast:

      "Therapeutenlogik": Da verklumpen Sie aber die -mögliche- logik auf einen Zeitpunkt- was nicht geht:

      Zeitpunkt1-MB

      Zeipunkt2-3 Persönlichkeitsstörung entwickelt sich (evtl. mit Risikoverhalten)

      Zeitpunkt4-mögliche weitere MB-Situation.

       

      Oder auch möglich:

      Zeitpunkt 1-2: Persönlichkeitsstörung entickelt sich ohne MB (halt andere Gründe-z.B. desorganisierte Bindung)

      Zeitpunkt 3 : MB durch Persölichkeitsstörung bedingt.

       

      Aber sonst mein Mitgefühl für die als unbefriedigend empfundenen Gruppenerlebnisse.

      • GS
        Gast s.o.
        @Gast:

        Nein, ich meinte ja nur die Pauschalisierungen. Sind bspw. etwa Kinder psychisch kranker Eltern Freiwild, nur weil sie angeblich zwingendermaßen eine Bindungsstörung haben müssen? Auch die können einfach mal zur falschen zeit am falschen Ort gewesen sein!

        • G
          Gast
          @Gast s.o.:

          Ich gehe davon aus, dass Sie hier die Erlebnisse im Umfled und auch in Selbsthilfegruppen verarbeiten?

          Psychisches/rechtliches Wissen steht heutzutage jedem zur Verfügung- Buchhandel halt. Viele Menschen, die nicht grade religiös unterwegs sind benutzen dieses Vokabular der Postmoderne.

          Da diesen Menschen aber kein anderes zur Verfügung steht, setzen sie die Begriffe nicht strategisch ein, um ihre Aussage zu untermauern, es gibt halt keine andere Sprache.

           

          Davon zu trennen ist die Logik mit der das angewendet wird. Hier würde ich von Psychologen Konsistenz erwarten, von Laien nicht unbedingt.

           

          Zur Replik: Ich war noch nie in einer Selbsthilfegruppe und stelle mir das schwierig vor. Man soll sich Hilfe geben in einem Prozess in dem ja alle stecken. Es heißt ja nicht Austherapierte leiten an.

           

          Pauschalisierungen sind dämlich. Falsch abgebogen im Feld zwischen Einzelfall und Phänomen.

          Ich kann ihnen nur raten, wenden Sie sich an den Gruppenleiter und mahnen Sie höhere Professionalität in der Leitung der Gruppe an.

  • ich sag's ja ungern, aber: es wurde eben nicht über sexualisierte gewalt gegen kinder (und andere als schwach geltende) debattiert, sondern über "pädophile Verstrickungen" von parteien bis hin zu einzelnen und über einen weitzurückliegenden 'zeitgeist', der all das verschuldet hatte und darüber, wie diese am besten zu bestrafen seien - beispielsweise durch nicht-wahl von xy.

    dass dabei die früheren wie die aktuellen betroffenen, die leidenden wie die nicht-leidenden wie die unter etwas anderem leidenden, auf der strecke bleiben, scheint mir wenig verwunderlich. um die ging es ebensowenig wie es in der aktuellen prostitutionsdebatte um prostituierte und deren miserable 'arbeitsbedingungen' geht.

  • KG
    K.I.Z. gebildet

    Der Missbrauch der Opfer durch die Rechtsradikalen ist schlimm, aber was ist mit den anderen Gruppierungen, die die Opfer nur benutzen um Stimmung zu machen? Sei es im Wahlkampf oder sonstwo.

    Relativiert die Autorin da nicht - gewiss unbewusst - die anderen Gruppen, die Missbrauchsopfer plakativ vor ihre Agenda spannen (Ministerin von der Leyen an erster Stelle).

     

    Wenn es den Eliteschülern, den privilegiertesten, am einfachsten war an die Öffentlichkeit zu gehen, sollten wir dann nicht darüber reden diese Privilegien auf den Rest der Menschen auszuweiten?

    Und wäre dies, was der Kern linker Politik sein müsste, nicht die Immunisierung gegen den Opferstatus, die langfristig Erfolg verspricht?

    • @K.I.Z. gebildet:

      "Wenn es den Eliteschülern, den privilegiertesten, am einfachsten war an die Öffentlichkeit zu gehen,"

       

      Einfach war es für die Missbrauchsopfer, die sich als ehemalige SchülerInnen von "Eliteeinrichtungen" an die Öffentlichkeit gewandt haben nicht.

       

      Aber sie machten und machen es vielen Menschen leicht, sich zu identifizieren und dem Thema anzunähern.

       

      "sollten wir dann nicht darüber reden diese Privilegien auf den Rest der Menschen auszuweiten?"

       

      Ja, das wäre in der Tat ideal. Haben Sie konkrete Vorschläge?

       

      MfG,

      Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

  • Spannendes Thema.

     

    Was hat dazu geführt, dass die Medien und die Bevölkerung sich 2010 plötzlich für Opfer sexueller Misshandlung interessierten? Einige der Betroffenen aus Institutionen, die öffentlich auftreten, hatten sich schließlich schon vor Jahrzehnten zu Wort gemeldet. Worauf aber - scheinbar - damals kaum jemand reagiert hat.

     

    Vielleicht war es vor fast vier Jahren auch einfach an der Zeit. Die Menschen in unserem Land endlich bereit und in der Lage sich mit einer allgegenwärtigen, aber gleichzeitig weitgehend tabuisierten Realität auseinanderzusetzen.

     

    "Stigma" und "Tabu" erfüllen soziale Zwecke. Grenze ich das Opfer aus, laufe ich weniger Gefahr an unangenehme Ereignisse in der eigenen Biografie erinnert zu werden. Je mehr negative Eigenschaften ich dem Stigmatisierten zuschreibe, desto leichter fällt es mir zu sagen: "damit habe ich nichts zu tun, sowas passiert nur schwachen Menschen, Außenseitern eben. Ich dagegen bin stark".

     

    Oder gleich: "die sind selbst Schuld".

     

    Ich externalisiere: "Opfer? Das sind immer nur die Anderen".

     

    Übergriffigkeit, Gewalt, Manipulation, negative Empfindungen sind ein fester Bestandteil dessen, was man als "Sexualkultur" bezeichnen könnte.

     

    Sie gehören zum Leben dazu.

    Da der herrschende Zeitgeist aber Sexualität idealisiert und wir uns in einer Status- und Leistungsgesellschaft befinden, wird das weitgehend ausgeblendet.

     

    Insofern: "Missbrauchsopfer" halten Allen einen Spiegel vor. Aber nicht jeder möchte hineinsehen.

     

    Angelika Oetken, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden

  • R
    reblek

    "Sexueller Missbrauch ... sexuelle Gewalt an Kindern... sexuelle Übergriffe" - Gewalt und Übergriff, als Begriffe schön und gut, aber "Missbrauch"? Wo ist da das, was damit gemeinhin einhergeht, nämlich der "Gebrauch"? Und warum ist sexuelle Gewalt gegen und sexueller Übergriff auf Kinder und Jugendliche nicht auch "Vergewaltigung" wie bei Erwachsenen?

    • @reblek:

      "Sexueller Missbrauch" ist ein etablierter, aber auch zu Recht sehr umstrittener Begriff.

       

      Monika Gerstendörfer hat in ihrem Buch "Der verlorene Kampf um die Wörter" dargestellt, wie opferfeindlich unsere Sprache ist, wenn es um sexualisierte Gewalt geht.

       

      "Missbrauch" hat viele Erscheinungsformen, deshalb gibt es verschiedene Vorschläge für einen angemesseneren, wertschätzenderen Sprachgebrauch.

       

      Ich persönlich habe mich dafür entschieden, den Begriff "sexuelle Misshandlung" zu benutzen. Weil er meiner Einschätzung nach den Kern dieses Verbrechens am besten trifft.

       

      "Vergewaltigung" ist im Strafrecht definiert und bezeichnet sexuelle Gewalt die mittels Penetration ausgeübt wird.

       

      Da aber die sexuelle Misshandlung von Kindern auf sehr vielfältige, manchmal auch - scheinbar - gewaltlose Art vollzogen wird, wäre "Vergewaltigung" im Zusammenhang mit "Kindesmissbrauch" nicht umfassend genug.

       

      MfG,

      Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

  • G
    Gästin

    Ein sehr guter Artikel, dem man anmerkt, dass sich die Autorin wirklich mit der Thematik befasst hat. Als Betroffene sage ich hierfür einfach mal DANKE!

     

    Zum Artikel:

     

    Alles das, was hier geschrieben steht, ist genau so. Und es ist eigentlich nach "Canisius" (2010) fast noch schlechter zu ertragen als zuvor. Weil dazwischen all die Versprechungen lagen, all die großen Worte und öffentlichkeitswirksamen Ankündigungen, die aber an den entscheidenden Punkten (u.a. Therapieversorgung, Entschädigung/Einkommensverlustausgleich, Opferentschädigungsgesetz, Verjährung, weniger Stigmatisierung der Betroffenen, wirksame Prävention, wirksamer Schutz von Kindern in der Familie, etc.) nichts gebracht haben.

     

    Damit will ich allerdings nicht sagen, dass ich den Mut der Betroffenen des Canisius-Kollegs nicht wertzuschätzen weiß. Er hat uns Betroffenen zumindest die Möglichkeit eröffnet, miteinander in Kontakt zu treten und selber ExpertInnen unserer Sache zu werden. Allerdings stellt sich nach allem, was wir heute wissen, die Frage, was wäre, wenn sich damals die Betroffenen des Canisius-Kollegs nicht geoutet hätten? Wen auf politischer und/oder gesellschaftlicher Ebene würden die vielen Betroffenen (heute erwachsenen wie aktuell kindliche) in Deutschland interessieren?

    • B
      Bluebeardy
      @Gästin:

      Ihre Gedanken und Schlussfolgerungen decken sich mit meinen als Überlebender: Viele (auch leere) Worte und Entschuldigungen wurden benutzt, um keine großen Veränderungen an der Situation von Betroffenen zu bewirken.

      Statt dessen noch die Benutzung für politische Auseinandersetzungen, Wahlkampfstrategien und Säkularisierungsabsichten nebst „Ausgabengestaltung“ durch raffinierte Fondmodalitäten.

      .

      Und durch die geschickte Aufmerksamkeitsverlagerung auf „Pädophilie“ geriet der Haupttatort Familie (+Umfeld) mit den „Normaltätern“noch mehr aus dem Fokus.Springermedizin (Der Nervenarzt 9/2013) publiziert per Video mittlerweile „Doch nur etwa die Hälfte aller Kindesmissbrauchstäter erfüllt die diagnostischen Kriterien der Pädophilie.“ - bislang lag die höchste Schätzung bei 20% Kernpädophilen - da unheilbar diagnostiziert, wird geschickt Ohnmacht gegenüber Lösungen der Sexuelle Gewaltproblematik geschürt.

      • @Bluebeardy:

        Springermedizin (Der Nervenarzt 9/2013) publiziert per Video mittlerweile „Doch nur etwa die Hälfte aller

        Kindesmissbrauchstäter erfüllt die diagnostischen Kriterien der Pädophilie.“ - bislang lag die höchste Schätzung bei 20% Kernpädophilen - da unheilbar diagnostiziert, wird geschickt Ohnmacht gegenüber Lösungen der Sexuelle Gewaltproblematik geschürt."

         

        @Bluebeardy,

         

        wurde dort auch angegeben, wer diese Zahl auf welche Weise ermittelt hat? Falls nicht wäre Skepsis angesagt. Auch wenn die Fachzeitschrift "Der Nervenarzt" als seriöses Blatt geschätzt wird: bekanntlich ist einem das Hemd näher als der Rock. Und jeder muss sehen wo her bleibt - heißt es auch sehr treffend.

         

        Einige Fachleute haben Pädo"philie" zur sexuellen Präferenz und damit für "unheilbar" erklärt, im Sinne von "Präferenz ist keine Krankheit und muss deshalb auch nicht ursächlich behandelt werden". Gleichzeitig wird für potentielle und tatsächliche Kindesmissbraucher "Hilfe" in entsprechenden Zentren angeboten, die vorgibt mittels verhaltensschulender Elemente Männern mit entsprechenden Impulsen zur Kontrolle ihres Verhaltens bewegen zu können.

         

        Anders ausgedrückt: Pädosexualität wird zur Normvariante deklariert, die erst Krankheitswert hat, wenn der Pädosexuelle darunter zu leiden beginnt.

         

        Eine ursächliche Therapie wäre dagegen wohl eine, die eher psychoanalytisch, ggf. auch traumatherapeutisch angelegt ist.

         

        Wird die sexualisierte Misshandlung von Kindern dagegen vor allem unter juristischen und sozialen Gesichtspunkten betrachtet, dann sind die Polizei, die Gerichte und Bewährungshelfer gefragt.

         

        MfG,

        Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

  • K
    Kamazhe

    Vielen Dank für diesen Beitrag. Tatsächlich ist es nach wie vor nicht attraktiv, ein Opfer zu sein. Deshalb bezeichnen wir uns selbst auch als Betroffene. Ich bin als Kind Opfer geworden, aber heute versuche ich mich aus dieser Rolle zu lösen. Aber ich bleibe Betroffener sexueller Gewalt, d.h., ich weiß, wovon ich rede. Dies ist ein wichtiges Signal und auch Ausdruck eines Experte in eigener Sache zu sein. Betroffene müssen für ihre Interessen kämpfen. Hilfe und Beratung gibt es leider imme noch viel zu wenig. Durch ihr Wissen um Täterstrategien und -strukturen können Betroffene dazu beitragen, heute und in Zukunft Kinder und Jugendliche besser zu schützen. Leider werden wir noch viel zu oft von Medien in der Opferrolle festgenagelt, durch immer gleiche mediale Inszenierungen. Und es gibt auch tatsächlich wahrnehmbar eine Scheu im Umgang mit Betroffenen sexueller Gewalt. Um so wichtiger, dass wir diese Ängste abbauen, sichtbarer werden und die Möglichkeiten nutzen, die seit 2010 entstanden sind. In der Opferhierarchie spiegelt sich leider auch die herrschende gesellschaftliche Spaltung und die ungleichen Bildungschancen wieder. Wichtig ist, gesellschaftlich und individuell sprachfähig zu werden. Dazu gehört eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung von sexueller Gewalt in Heimen, Institutionen von Kirche und Vereinen sowie den Familien. Hoffentlich gibt es dazu im neuen Jahr endlich eine Unabhängige Kommission wie von zahlreichen Betroffenen gefordert.

    Matthias Katsch, Canisius-Schüler, Berlin, Sprecher ECKIGER TISCH e.V., Mitglied im Fachbeirat des Unabhängigen Beauftragten Sexueller Missbrauch.

  • G
    Gernot

    Um es einmal klarzustellen: Es darf keine Verjährungsfrist für Täter sexuellen Missbrauchs geben. Ein Mensch, der missbraucht wurde, kann in der Regel kein normales, eigenständiges Leben mehr führen. Er wird ein Leben lang damit konfrontiert werden. Therapien sind zwar hilfreich, können stabilisieren, aber eine geschundene Seele heilen?, das vermag kein Therapeut. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich sehr lange, zu lange nicht in der Lage war, über Missbrauch zu reden. Verdrängung als Selbstschutz, Scham sowie die Angst vor einem verbalen Missbrauch meiner Mitmenschen. Und: ja, es wurde immer hinweggesehen. Man schwieg einfach, warum auch immer. Das kommt einem Freibrief gleich, dass ein Missbrauchstäter weiterhin missbrauchen darf. Ein Opfer ist nicht in der Lage anzuklagen.

    • @Gernot:

      Bitte einmal die politisch korrekte Bezeichnung verwenden, also TäterInnen.

    • @Gernot:

      Aber natürlich kann ein Mensch, der missbraucht wurde, ein normales, eigenständiges Leben führen. Genau wegen dieser Fehlannahme ziehen es viele Betroffenen vor, unsichtbar zu bleiben und zu schweigen. Therapie ist das eine, wichtig ist vor allem, rasche Intervention. statt Verdrängung. Deshalb: Sprechen hilft! Aber es braucht eben Hilfs- und Beratungsangebote, und ein gesellschaftliches Klima, in dem Sprechen möglich ist.

  • G
    gast

    Als Selbstbetroffene danke ich der taz für das regelmäßig erneute Aufgreifen dieses Themas. Hier wird kein Bericht aus Sensationsgier geschrieben, sondern wohl wirklich aus dem Grund "das Unvergessliche nicht zu vergessen"! Es ist viel zu tun in diesem Land und auch in so vielen anderen Ländern der Welt... Kinder sind wehrlos und genau diese Wehrlosigkeit brennt sich durch den Missbrauch für immer in ihre Seelen ein.

    Du verleugnest die Wahrheit, Du spaltest sie ab... Du willst nicht wahrhaben, dass dieser Tatbestand Teil Deiner Biografie war & bleibt. Und eines Tages machst Du Dich auf den Weg durch das Hilfesystem dieser Republick und erkennst mit Schrecken, dass die Stigmatisierung als Opfer "nur" die eine Seite der Medaille ist. Die andere ist das Gefühl, bei der Bitte um Unterstützung, Therapie und Absicherung plötzlich zum "Schmarotzer" degradiert geworden zu sein. Denn es zählt einzig die Kostenfrage und das auch, wenn Du zuvor erfolgreich ein Studium absolviert hast. Es geht schnell in diesen Zeit zum Verlierer zu werden... Doch Überlebende zu sein heißt auch kämpfen gelernt zu haben! Und so sage ich laut: ich wurde missbraucht!