Debatte Schwarz-Gelb: Streit als Chance
Unter Schwarz-Gelb könnten Arme wieder mehr Gehör finden. Schon zum Selbsterhalt wird sich die SPD nun um Sozialverbände bemühen
D er starke Rückgang der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl hängt entscheidend damit zusammen, dass finanziell schwache Bevölkerungsgruppen ihre Interessen im politischen System immer weniger vertreten sehen. Diese Wahrnehmung deckt sich mit drei langfristigen Wandlungsprozessen, die zusammengenommen als Krise der Repräsentation von Armen und Armutsbedrohten anzusehen sind. Entgegen der ersten Intuition kann aber gerade die schwarz-gelbe Regierungsübernahme eine der Repräsentationskrise entgegenwirkende Entwicklung auslösen. Das hängt mit dem Zusammenspiel der drei Krisensymptome zusammen, das durch die Reformierung der Lager gebrochen wird.
Ein erstes Krisensymptom bildet die Entkoppelung von Parteien und Milieus. Die Volksparteien haben an Hegemonie über ihre angestammten Wählergruppen verloren. Im Umkehrschluss begreifen sich die Parteien viel weniger als Schutzmacht für deren spezifische Interessen. Bei der SPD ist die Erosion der Bindungen zu verzeichnen. Nur noch 24 Prozent der Arbeiter und 22 Prozent der Arbeitslosen, sofern sie denn zur Wahl gingen, votierten für den ehemaligen Anwalt der Schwachen. Die Union feiert einen Wahlsieg mit dem niedrigsten Zweitstimmenanteil seit 1949.
Befördert wurde diese Entwicklung durch die größere Bereitschaft zur Wechselwahl und die Entideologisierung der Volksparteien. Dazu beigetragen haben aber auch Fehlwahrnehmungen, die von Politikberatern gerne verbreitet werden. Entgegen der Mär von der individualisierten, medienzentrierten und unpolitischen Wählerschaft haben wir es nämlich weiter mit sozialen Milieus und einer stark politisierten Gesellschaft zu tun. Als Folge des Entkopplungstrends besitzen vor allem die benachteiligten Milieus keine garantierte Vertretungsmacht mehr. Auch die durch Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe bewirkte Ausweitung des Armutsrisikos auf Teile der Mittelschicht wäre zu Zeiten fester Milieubindungen nicht vorstellbar gewesen.
Ein ähnliches Phänomen zeichnet sich im Verhältnis zwischen Verbänden und Parteien ab. Die Bindungen haben sich gelockert und folgen den Gesetzen des Marktes. Die Sozialverbände konnten einst auf sichere Einflusskanäle in den Parteien und Administrationen zurückgreifen, um dort die Anliegen ihrer Klientel geltend zu machen. Heute bewegen sich Diakonie, Caritas oder Arbeiterwohlfahrt in einem völlig anderen Umfeld. Kurzfristige Förderprogramme, projektbezogene Maßnahmen und deren wettbewerbliche Ausschreibung kennzeichnen ein Beziehungsgeflecht, in dem die Vermittlung schwacher Interessen in Konkurrenz zu anderen Akteuren und Interessen erstritten werden muss. Vertreter der Caritas werden von der Union nicht mehr automatisch geladen, bekommen dafür aber die Chance, dem ehemaligen politischen Gegner Expertise und Maßnahmen anzubieten. Es ist ein Wettbewerb um die "besten" Sozialmaßnahmen entstanden.
Im Eigeninteresse der Sozialverbände liegt es, diese Programme zum Erfolg zu führen und damit ihren gesamtwirtschaftlichen "Marktwert" nachzuweisen. Es besteht das Risiko, dass aus der ehemaligen Klientel lediglich die "Aktivierbaren" und ökonomisch "Systemrelevanten" gefördert werden. Diejenigen, die der Fürsorge keine Gegenleistung entgegenbringen können, werden als Adressaten uninteressanter. Die beiden skizzierten Tendenzen könnten durch einen funktionierenden politischen Wettbewerb abgefedert und sogar positiv umgemünzt werden. Die Wählergruppen der Armen, Armutsbedrohten und ihrer Fürsprecher stellen nämlich eine kaum ignorierbare Größe dar. Dafür müssen jedoch Alternativen zur Wahl stehen.
Allerdings wurden die negativen Auswirkungen der Entkopplungstendenzen verstärkt durch einen umfassenden Trend zum Regieren im Konsens. Dabei wurden Verantwortlichkeiten verwischt und die politischen Angebote aus der Sicht von Betroffenen erheblich eingeschränkt. Mangelnde Transparenz und die Verlagerung der jeweiligen Einflussnahme ins Informelle führten dazu, dass im etablierten Parteienspektrum nur noch unzureichend Alternativen angeboten wurden - insbesondere für Arme und Armutsbedrohte.
Damit einher ging eine Fixierung auf gesamtökonomisch abgeleitete Politikziele. Zentrale sozialpolitische Entscheidungen wie die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden teilweise in außerparlamentarischen Gremien, mit Teilnahme der Gewerkschaften (!), vorbereitet ("Hartz-Kommission") und von allen etablierten Parteien verabschiedet. Dieser Konsenstrend setzte schon während der ersten Amtszeit Schröders ein. Die Reaktion der Wählerschaft bestand zunächst im Aufstieg der Linkspartei und setzte sich nun in Form vermehrter Wahlverweigerung und massiver Verluste für die SPD fort.
Angezeigt ist folglich ein Mehr an Konflikt im Parteienwettbewerb, also ein klares Gegenüber von Regierung und Opposition und die Abwählbarkeit derjenigen, die Entscheidungen zu verantworten haben.
Die durch das langjährige Regieren im Konsens mitverursachte Vorherrschaft gesamtökonomischer Perspektiven bildete die vorhandenen gesellschaftlichen Problemlagen nur unzureichend ab. Schwarz-Gelb und die damit verbundene Rückkehr von Lagern, die für Verschiedenes einstehen, ist insofern als Chance für die Repräsentation finanziell benachteiligter Gruppen anzusehen. Nur was angemessen repräsentiert wird, kann auch Berücksichtigung in den Köpfen anderer Bürger finden. Die teils populistische Fundamentalopposition der Linken konnte dies nicht leisten, da die Partei keine Regierungsalternative bot und für viele nicht wählbar ist. Ein gemäßigt linkes Lager kann dies sehr wohl.
Aus der erzwungenen Öffnung der SPD und der wahrscheinlichen Anpassung der Linken an die neue Konstellation sollte eine politische Alternative entstehen, die vom schwarz-gelben Lager als programmatische Konkurrenz wahrgenommen wird und diese zwingen, auch ihrerseits auf die Interessen von Armen und Armutsbedrohten einzugehen.
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