Debatte Schulsystem: Integriert die Gymnasiasten!
Wir brauchen eine Bewegung, die für eine "Schule für alle" streitet. Denn nur dort kann das Zusammenleben in seiner ganzen Vielfalt erlernt werden.
V iel ist derzeit von Integration die Rede. Meist ist damit die Integration von Migranten in die deutsche Gesellschaft gemeint. Aber Integration hat viele Facetten. Dazu gehört die Frage, wie Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird.
Deren Rechte zu stärken ist das Anliegen der UN-Behindertenrechtskonvention. Sie fordert ein Recht auf inklusive Bildung, versteht dies jedoch ausdrücklich nicht als Spezialrecht für Menschen mit Behinderungen, sondern als allgemeines Menschenrecht. Das Recht auf gemeinsames Lernen sollte auch für alle anderen gelten - unabhängig von Elternhaus und Einkommen, sozialer, kultureller oder ethnischer Herkunft und individuellen Fähigkeiten. Inklusive Bildung, wie sie die UN für Kinder mit Behinderungen fordert, ist aber an die Existenz einer "Schule für alle" gebunden.
Die Unesco hat dieses Verständnis von inklusiver Bildung als Menschenrecht seit ihrer Konferenz von Salamanca 1994 zum Gegenstand ihrer weltweiten Kampagnen gemacht. Auch die deutschen Bundesländer haben sich mit der Anerkennung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, eine inklusive Bildung zu gewährleisten. Der Paradigmenwechsel, der damit einhergeht, wird allerdings ignoriert oder gar geleugnet.
Recht auf gemeinsames Lernen
Selbst die Grünen, die eigentlich das Modell einer "Schule für alle" bevorzugen, schwenken derzeit auf das zweigliedrige Schulsystem um - so steht es jedenfalls in den Erklärungen der Grünen-Landtagsfraktionen in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen. Der Volksentscheid von Hamburg, mit dem die geplante Schulreform dort gestoppt wurde, habe gezeigt, dass es nicht möglich sei, eine "Schule für alle" durchzusetzen, so ihr Argument. Um des Schulfriedens willen müsse man schweren Herzens das zweigliedrige Schulsystem in Kauf nehmen.
Zweigliedrigkeit bedeutet, dass die Kinder auf dem Gymnasium ausschließlich mit solchen Kindern zusammen lernen, die in der Regel entsprechend ambitionierte Eltern aus der Ober- und Mittelschicht haben und für das Beschleunigungsprogramm G 8 als geeignet befunden wurden. Kinder mit Entwicklungsproblemen oder sozial benachteiligte Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern oder mit Migrationshintergrund (die hierzulande häufig zu Behinderten gestempelt werden), fallen da meist heraus. Die Kinder der Unterschicht und des Prekariats lernen mit denen, die nicht die Gymnasialfähigkeit besitzen oder aus anderen Gründen die zweite Schulform vorziehen. So zementiert man die Klassengesellschaft.
Während außerhalb Deutschlands das längere gemeinsame Lernen in einer "Schule für alle" vielerorts eine Selbstverständlichkeit ist, beharrt Deutschland auf seinem Sonderweg. Unseren Kindern wird verwehrt, Unterschiedlichkeit und Vielfalt in der Schule zu erleben und das Zusammenleben zu erlernen. Wie aber sollen Vorurteile überwunden werden, wenn Kinder nicht durch gemeinsames Leben und Lernen von klein auf lernen, sich in ihrer Andersartigkeit als gleichwertig anzuerkennen?
Migräne und Kopfschmerzen
Vielfalt im gemeinsamen Unterricht stört nicht das Lernen, sondern fördert individuelle Leistungen auf hohem Niveau. Die Unesco hat dafür eine einleuchtende Erklärung: "Da inklusive Schulen Kinder gemeinsam unterrichten, müssen sie Mittel und Wege finden, beim Unterrichten auf individuelle Unterschiede einzugehen. Davon profitieren alle Kinder." An vielen Gymnasien dagegen gehören Kopfschmerzen und Migräne inzwischen zum Alltag. Nicht wenige Schülerinnen und Schüler flüchten sich vor dem hohen Leistungsdruck in regelmäßigen Alkoholkonsum, wie Befragungen ergeben haben.
Manche meinen, es müsse nun zuerst darum gehen, das Elend der Hauptschulen zu beenden. Natürlich, denn wie die Schüler und Schülerinnen der Sonderschule, sind auch die Schülerinnen und Schüler an den Hauptschulen in besonderem Maße von sozialer Exklusion bedroht. Es verstößt gegen den Geist der UN-Konvention, sie in ihren Ghettos zu belassen.
Restlaufzeit für dieses System
Wir brauchen eine Bewegung, die für das Menschenrecht auf gemeinsames Lernen streitet. Wie beim Atomausstieg sollte auch für das selektive Schulsystem eine Restlaufzeit festgesetzt werden. Wir brauchen den Einstieg in den Ausstieg jetzt! In der Übergangszeit darf es keine Zwangszuweisungen zur Sonderschule oder zur Hauptschule mehr geben. Durch die Verpflichtung, individuell zu fördern und auf Abschulungen und Klassenwiederholungen zu verzichten, entwickeln alle Schulen ein inklusives Selbstverständnis. Selbstverständlich müssen Schulen und Lehrer dafür so gut wie möglich mit Fortbildung, Ausbildung und zusätzlichen Ressourcen sowie durch den Aufbau pädagogischer Unterstützungszentren in den Schulen gestärkt werden.
Für diese Reform braucht es einen politischen Willen. Kann es sein, dass die Grünen, die sich gegen Stuttgart 21 und für den Atomausstieg stark machen, ausgerechnet hier mutlos klein beigeben? Kann es sein, dass die Synode der Evangelischen Kirche im November über Bildungsgerechtigkeit diskutiert und dort den Elternwillen statt das Recht der Kinder auf gemeinsames Lernen zur letzten Instanz erklärt?
Kann es sein, dass die Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte das Recht auf gemeinsames Lernen lediglich auf die Kinder mit Behinderungen bezieht? Kann es sein, dass die Unesco als internationale Organisation der Vereinten Nationen ein inklusives Schulsystem fordert, aber die deutsche Unesco-Kommission sich zu den bildungspolitischen Fehlentwicklungen in Deutschland ausschweigt?
Man muss Walter Hircher, den Präsidenten der Deutschen Unesco-Kommission, unbedingt beim Wort nehmen. Er schrieb: "Allen Kindern soll ermöglicht werden, in einem gemeinsamen Unterricht voll am schulischen Leben teilzuhaben. Erst wenn Systeme dies für alle Kinder leisten, können wir von umfassender Bildungsgerechtigkeit sprechen." Dieses Bekenntnis verpflichtet zum aktiven Handeln.
BRIGITTE SCHUMANN
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