Debatte Repräsentative Demokratie: Würfeln statt wählen
Unsere Demokratie hat ein Problem mit Gewaltenteilung und Repräsentation. Da hilft nur eins: Der Rückblick in die Antike.
A ngela Merkel ist ein Glücksfall für die Demokratie. Indem sie populäre Themen vereinnahmt, statt selbst welche zu setzen, vertritt sie das Mehrheitsinteresse. Ihr Näschen für Trends, ihr Machtinstinkt und ihr Opportunismus sind in Summe das präziseste Konsens-Werkzeug in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber ist das Am-liebsten-alle-Vertreten überhaupt Teil des Jobprofils einer Bundeskanzlerin? Erwarten wir von einer Regierungschefin nicht eher, dass sie Zukunft gestaltet und Visionen umsetzt, statt immer nur clever zu reagieren?
Merkel ist also auch deshalb ein Glücksfall für die Demokratie, weil anhand ihres Stils besonders deutlich wird, dass unsere repräsentative Ordnung Systemfehler hat. In der Schule lernen wir, dass Exekutive (die vollziehende), Legislative (die gesetzgebende) und Judikative (also die richtende Gewalt) sich gegenseitig kontrollieren und so staatliche Macht begrenzen. In der Bundesrepublik wird das durch Regierung, Bundestag und die Gerichte realisiert. So steht es auch auf bundestag.de, der offiziellen Webseite unseres Parlaments.
Nun verschafft unser Wahlsystem aber bekanntlich der Regierung mit der Kanzlerin an der Spitze gleichzeitig eine Mehrheit im Bundestag. In der Praxis – Stichwort Fraktionsdisziplin – stimmt sie also über ihre eigenen Vorschläge ab. Gewaltenteilung sieht anders aus. Eigentlich weiß es jeder, aber kaum einer spricht davon. Grund zur Revolution ist das trotzdem nicht. Unsere politische Kultur kennt andere Korrektive, die die wechselseitige Kontrolle bedingt ersetzen: Opposition, Ausschussarbeit, Vernunftehen bei der Koalitionsbildung und den Druck der öffentlichen Meinung. Damit sind wir bisher gut gefahren, die deutsche gilt als eine der handlungsfähigsten und gleichzeitig stabilsten Demokratien der Welt. Bisher.
Unsere repräsentative Demokratie hat aber auch ein Repräsentationsproblem. Eine Partei mit einstelligem Wahlergebnis kann mehrere Minister stellen. Eigentlich sollen die Wahlen garantieren, dass diese wenigen die geeignetsten sind. Von der Wirksamkeit der Methode sind aber immer weniger überzeugt. Politiker-Verdruss hat Politikverdrossenheit abgelöst. Der Befund ist von rechts, von links und aus der Mitte zu hören. Die BürgerInnen interessieren sich sehr wohl für Inhalte, aber das Machterhaltungssystem Bundestag weckt Argwohn, nicht nur bei den sogenannten „Abgehängten“.
Diesen Argwohn sollten Demokraten, gerade linksliberale, ernst nehmen. Denn das Repräsentationsproblem äußert sich ganz direkt als Klassenproblem. Die Juristen und Lehrer im Bundestag sind zwar – überwiegend – kluge Spezialisten, aber keine Volksvertreter.Die Unzufriedenheit machen sich allerorten Demokratiefeinde zunutze: Die Putins und Erdogans, die Orbáns und Kaczyńskis – demokratisch legitimierte Antidemokraten – basteln sich Autokratien zurecht; die AfD macht mit der Forderung nach mehr Demokratie Wahlkampf; und das Gefühl, bei der Wahl keine echte Wahl zu haben, kennt man bis in die bildungsbürgerlichen Eliten hinein.
Wählen ist oligarchisch, losen demokratisch
Es wäre also durchaus Zeit, über grundlegende System-Updates nachzudenken. Der eleganteste Vorschlag dafür ist 2.500 Jahre alt: „So gilt es, will ich sagen, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter per Los erfolgt, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl geschieht“, schrieb Aristoteles. Genau! Lasst uns würfeln! Sechshundert politische Laien, fachkundig per Los bestimmt, würden unsere Gesellschaft um ein Vielfaches besser abbilden, als es der Bundestag momentan tut.
Warum nicht einer traditionell gewählten Regierung, gern aus dem bekannten Parteienspektrum, ein solches Abstimmungsgremium entgegensetzen? Weil Politik nur in den Händen von sogenannten Experten gut aufgehoben ist? Dann muss man auch gegen freie Wahlen sein. Es ist der Kern der Idee von Volksherrschaft, dass die BürgerInnen in der Lage sind, ihre Interessen selbst zu vertreten.
„Die Demokratie steht und fällt mit dem Engagement der Bürgerinnen und Bürger“, sagte Norbert Lammert, der beliebteste Parlamentarier dieser Jahre, jüngst in seiner Abschiedsrede als Bundestagspräsident. Warum dann nicht über strukturelle Erneuerungen nachdenken, die genau dieses Engagement begünstigen würden, statt es bloß vom Wahlvolk einzufordern?
Irland zeigt, dass das funktioniert: Dort berät der Verfassungskonvent, 99 per Los bestimmte BürgerInnen, das Parlament in Fragen, die Verfassungsänderungen betreffen. Die Ausgewürfelten nehmen ihre Verantwortung ernst und brachten das erzkatholische Land zu einigen überraschend liberalen Entscheidungen, etwa bei den Themen Abtreibung und Homo-Ehe. Ein vergleichbares Organ wäre vielleicht auch bei uns der erste Schritt – entschieden differenzierter jedenfalls als die überall geforderten Volksabstimmungen. Der Effekt wäre derselbe: Der Souverän, also die BürgerInnen, würde gestärkt.
Das würde auch einem weltweiten Trend den Wind nehmen: Über Wahlsiege entscheiden immer mehr die Mittel, öffentliche Meinung zu manipulieren. Zwar sieht es nicht danach aus, als stünde eine Übernahme unserer politischen Instrumente durch Demokratiefeinde unmittelbar bevor – das dachte man allerdings in den USA noch bis zum Tag von Donald Trumps Wahl. Die Demokratie wehrhaft zu halten heißt auch, ernsthaft über ihre Erneuerung nachzudenken.
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