Debatte #MeTwo und Alltagsrassismus: Unrecht hat viele Gesichter
Reden über Alltagsrassismus ist kein Gejammer, sondern wichtig: Nur wenn wir beschreiben, was uns passiert ist, können wir uns selbst ermächtigen.
F rüher oder später musste es ja passieren. Denn anscheinend immer, wenn Menschen ihre geballten Diskriminierungserfahrungen unter einem Hashtag versammeln, taucht eine*r auf, der ihnen zuruft: „Stellt euch nicht so an, ich hab dasselbe erlebt, und mir macht das alles nix!“
So geschah es bei MeToo, wo nach Abertausenden Erzählungen von sexueller Belästigung und Gewalt einige andere Frauen vom Bildschirm herab erklärten, dass diese Vorfälle nun mal die Kosten der Freiheit seien. Und so ist es jetzt auch bei MeTwo, wo es um Alltagsrassismus geht.
Der taz-Redakteur Jörg Wimalasena schrieb, dass es sich um „Jammern auf hohem Niveau“ handele: Ähnliche Erfahrungen habe er auch gemacht, aber sie hätten ihn „nicht daran gehindert, mein Leben so zu leben, wie ich es möchte. Es würde mir nicht plausibel erscheinen, mich selbst per Twitter als ‚Opfer‘ zu stilisieren, und sei es ‚nur‘ als Opfer von Rassismus, denn das bin ich nicht, und das möchte ich auch nicht sein.“
Zu seinem geglückten Leben gratuliere ich ihm. Und es ist schön für ihn, dass er kein Opfer ist. Nicht nur auf deutschen Schulhöfen ist „Opfer“ längst Schimpfwort geworden. Auch akademische Feministinnen haben in den letzten Jahrzehnten lernen müssen, dass die Beschreibung ihrer selbst und anderer als bloße Opfer die Handlungsmöglichkeiten von Frauen unsichtbar macht und sie weiter schwächen kann, statt sie zu stärken. „Opfer“ ist tatsächlich ein heikles Konzept.
Ein Pendel der Extreme
Doch wenn mir einer ins Gesicht schlägt, bin ich Opfer dieses Schlagens. Wenn mich einer beleidigt, Opfer seiner Worte. Das nicht ernst zu nehmen und nicht darüber zu reden wäre nicht tapfer und nicht stark, sondern idiotisch.
Die Philosophin Mary Midgley schreibt in ihren Memoiren, dass es uns Menschen leider nicht gelinge, das Pendel, wenn es nach extremem Ausschlag in die eine Richtung in die andere unterwegs sei, auf halbem Weg zu stoppen, bevor es ins gegenteilige Extrem umschlägt.
So ein Fall scheint auch hier vorzuliegen: Sich zum Opfer zu stilisieren oder sich oder andere schwächer dastehen zu lassen, als sie sind, ist soziologisch nicht zutreffend und politisch nicht sinnvoll. Die eigene Schwäche, Verletzlichkeit und Interdependenz anerkennen, das an einem selbst begangene Unrecht wahrzunehmen und entsprechende Rechte einzuklagen, jedoch sehr wohl.
Selbstermächtigung funktioniert weder, wenn wir Verletzungen groß-, noch wenn wir sie kleinreden; wir können sie nur adäquat adressieren, wenn wir sie adäquat beschreiben. Und dass wir Opfer der Unrechtshandlungen anderer werden können, gehört zum Leben physischer, sozialer, emotionaler Wesen; in all diesen Hinsichten können wir verletzt und Opfer von Unrecht werden.
Konkurrenz der Diskriminierungen
Daher sind keineswegs, wie Wimalasenas Text suggeriert, nur oder vor allem ökonomische Härten die wahren Härten; auch verbale Schikanen und Herabsetzungen sind wirkliche Verletzungen, für wohlhabende Menschen ebenso übrigens wie für Arme. (Auch Geringverdiener*innen brauchen Anerkennung.)
Wer das „Jammern“ über verbalen Rassismus mit dem Hinweis auf „echte“ ökonomische Armut zu kontern versucht, setzt Dinge miteinander in Konkurrenz, die tatsächlich eng miteinander verwoben sind.
Übrigens oft auch kausal: Wenn die Bewerbung eine*r Bewerber*in mit Migrationshintergrund wegen des Namens oder eines Kopftuchs aussortiert wird, ist dies nicht „nur“ Rassismus auf der symbolischen Ebene, sondern führt auch zu ökonomischer Ungerechtigkeit. Wenn jemand aufgrund seines Akzents oder seiner Herkunft nicht für eine weiterführende Schule empfohlen wird, führt dies ebenfalls zu ökonomischer Ungleichheit.
Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir dieser Tage, das Werk der viel zu früh verstorbenen amerikanischen Philosophin Iris M. Young sei auch in Deutschland etwas bekannter, vor allem ihr Konzept der „Fünf Gesichter von Unterdrückung“.
Es geht um die Zusammenhänge
Dabei hat es Young nämlich geschafft, das Pendel auf halbem Weg anzuhalten: Für sie gibt es beide Formen von Unterdrückung, ökonomische wie kulturelle, „harte“ wie „weiche“.
Sie hat tatsächlich fünf Gesichter der Unterdrückung diagnostiziert: Gewalt, Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit und Kulturimperialismus. Sie betreffen fünf verschiedene Achsen sozialer Beziehungen; doch hängen sie miteinander zusammen, leisten einander Vorschub.
Typischerweise ist eine unterdrückte soziale Gruppe nicht nur von einer Form von Unterdrückung betroffen, sondern wird sowohl ökonomisch als auch symbolisch marginalisiert; und soziale Machtlosigkeit und die Ohnmacht, sich erfolgreich gegen physische Übergriffe zu wehren, hängen oft zusammen.
Dieses Zusammentreffen bedeutet eben strukturelle Ungerechtigkeit und macht aus manch einer Bemerkung, die ansonsten nur „blöd“ oder „unhöflich“ wäre, ein Symptom zum Beispiel von Rassismus.
Unbekannte Expertinnen
Vielleicht hat der eine oder die andere bemerkt, dass ich mich in diesem Text auf zwei weibliche Philosophinnen bezogen habe. Sie beide waren und sind sehr bedeutend für ihr Fach und dennoch der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Generell ist die Philosophiegeschichte arm an weiblichen Figuren, und die Arbeiten der wenigen Ausnahmen werden wenig rezipiert. Auch das gehört in den weiteren Umkreis der MeToo-Debatte.
Wobei die Art, wie Mary Midgley von den sexuellen Belästigungen ihrer Studienzeit spricht, vermuten lässt, dass sie wohl eher zur „Gegenseite“ (von mir aus betrachtet) der MeToo-Debatte gehört. Aber das macht nichts.
„Wir“ müssen nicht immer einer Meinung sein. „Wir“ erleben die Dinge vielfältig. Doch es ist essenziell, dass wir einander nicht Konkurrenz machen beim Aufdecken von Ungerechtigkeiten; das Ziel ist vielmehr ein Pluralismus von gleichermaßen adäquaten Beschreibungen eines Phänomens mit vielen Gesichtern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs