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Debatte LeitkulturBarbaren sind die anderen

Kommentar von Rudolf Walther

Das Konzept von Leitkultur beruht auf Überlegenheitsfantasien. Es wäre besser, von Plurikulturen zu sprechen.

Zur Anerkennung kultureller Differenzen in gemischten Gesellschaften gehören weder Nationalhymnen noch „christlich-abendländische Werte“. Gartenzwerge auch nicht Foto: photocase.de/coralie

D er Soziologe und Unternehmensberater Stefan Kühl hat jüngst in der taz das von der CSU und der sächsischen CDU lancierte Projekt einer „Leit- und Rahmenkultur“ kritisiert. In dem Debattenbeitrag vom 13. 10. wies er darauf hin, dass die Erstellung von Leitbildern zur Pflege einer Corporate Identity in Wirtschaftsunternehmen nutzlos sei, weil beide nicht funktionierten.

Die wiederkehrenden Leitkulturdebatten in der Politik zeugen tatsächlich von solcher Sysiphosarbeit – aber sie haben doch einen politischen Kern, der über die eitle Selbststilisierung von „Führungskräften“ in der Wirtschaft hinausweist.

In der Politik wird Leitkultur zum Instrument, um die Vielfalt der Bevölkerung auf national zu trimmen. Das CSU/CDU-Papier vertraut dabei auf verstaubte Ladenhüter, von der „schwarz-rot-goldenen Fahne“ über das „abendländische Wertefundament“ bis zur „lieb gewonnenen Heimat“; lauter partikulare historisch-kulturelle Phänomene. Mit diesen national angestrichenen Versatzstücken zimmerten jetzt die Bastler aus München und Dresden einen leitkulturellen Popanz, vor dem sich alle verbeugen sollen wie Wilhelm Tell in Schillers Drama vor Gesslers Hut.

Die Bemühungen um eine jederzeit abrufbare „Leitkultur“ wären als dumpf-deutsche Marotte abzutun, wenn sie nicht massenhaft Resonanz fänden, von der AfD und Pegida bis zu FAZ und Welt.

Das Kultivierbare im Menschen

Sieht man auf die Geschichte des Begriffs „Kultur“, schlägt der Ruf nach einer Leitkultur jedwedem ernsthaften Nachdenken über Kultur ins Gesicht. Seit der Antike zählt die Kultivierbarkeit zu den Wesenszügen der Menschen. Für den römischen Dichter Horaz etwa war „niemand so roh, dass er nicht mild gestimmt werden könnte, wenn er nur die Hand nicht abwiese, die ihn pflegen („kultivieren“) möchte“. Keineswegs verstand man die Begriffe Kultur und Kultivierung in der Antike nur positiv, sondern kannte auch die Kultur des Verbrechens, des Lasters, des Luxus und so weiter.

Damit handelte man sich allerdings eine Doppeldeutigkeit ein. Der Begriff meint immer zweierlei: den Prozess der Kultivierung beziehungsweise Zivilisierung und die Resultate dieses Prozesses. Damit entsteht und wächst die Gefahr, die, letztlich positiven, Resultate mit den nicht ganz seltenen negativen Zügen des Kultivierungsprozesses buchhalterisch zu verrechnen. Nach der Devise: Passiere, was da wolle, für die „abendländische Kultur“ bleibt der Saldo positiv. Aber wie soll man Homer, Mozart und Einstein mit Kolonialismus, Antisemitismus, Faschismus verrechnen?

Nur so lange, wie das Fortschrittsmodell unbestritten blieb, galt auch das Axiom der Vergleichbarkeit und der Messbarkeit von „Kultur“ an einem einzigen, von Europa aus definierten Maßstab. Mit der Anerkennung einer Vielzahl von Kulturen und Zivilisationen durch die wissenschaftliche Ethnologie, einsetzend mit Edward Burnett Tylor (1871), hat dieser Maßstab Plausibilität und Geltung verspielt. Claude Lévi-Strauß sprach ab 1951 nicht mehr von „unkultivierten und unzivilisierten Völkern“, sondern von „Völkern ohne Schrift“ – auch diese sind und haben „Kultur“.

Kultur im Singular ist ein Wahn von Fanatikern

Das bedeutet aber nicht, dass alle Kulturen gleich sind. Kulturen transportieren Werte und Normen und erzeugen neue Werte und Normen, denn „Werte werden bewahrt, wenn man sie nicht bewahrt, sondern weitertreibt“ (T. W. Adorno). Insofern ist jede auf Werte gegründete Kultur – erstens – ein sich selbst korrigierendes und erweiterndes sowie – zweitens – ein sich an anderen Kulturen orientierendes Phänomen, das sich genuin selbst relativiert und damit zwangsläufig auf andere Kulturen bezogen bleibt. Kultur im Singular ist ein Wahn von Fanatikern.

Im Unterschied zu einer Ware sind kulturelle Differenzen nicht quantitativ messbar, weil Kulturen komplexe qualitative Ganzheiten bilden, die nicht hierarchisch einzuordnen sind wie Waren in eine Preis- oder Sportler in eine Rangliste. Kulturen bilden so wenig eine Hierarchie – mit einer Leitkultur an der Spitze und Subaltern-Kulturen darunter – wie Hochsprachen eine Rangordnung nach der Zahl ihrer Sprecher. Das Chinesische und das Englische können weder „Überlegenheit“ noch eine Leitfunktion beanspruchen, nur weil es weniger Italienisch- oder Lateinischsprechende gibt.

Menschen, die an Selbstüberschätzung leiden, halten sich für Napoleon, und Sprecher national verblendeter Kollektive führen sich als Propheten der Leitkultur auf.

Universelle Mindeststandards

Kulturelle Relativierung, das heißt die Anerkennung von kulturellen Differenzen in gemischten Gesellschaften (diese bilden keine Multikultur im Singular aus, sondern Plurikulturen), ist zurückgebunden an die Anerkennung universeller Minimalstandards im Recht, in der Politik und im Alltag. Standards also, nach denen etwa das Rechtssystem ohne Folter auskommt, Religion ohne körperliche Züchtigungsrituale, der politische Diskurs ohne Gewalt und das Zusammenleben ohne Diskriminierung beim Zugang zu Bildung und sozialer Teilhabe.

Zu diesen Minima gehören weder Nationalhymnen noch „christlich-abendländische Werte“, wohl aber die Anerkennung des Grundgesetzes und der Menschenrechte, die individuelle Freiheit und Gleichheit sowie der solidarische Zusammenhalt gegen soziale Ungleichheit und Exklusion aufgrund von Herkunft, Religion oder Sprache.

Plurikulturen verzichten auf Ausgrenzung durch rigide Normen und hohe „Eintrittspreise“ ins national-kulturell abgesteckte Reservat. Sie setzen auf Selbstreflexion und aufklärende Kritik an Normen, Traditionen und Ritualen. „Der Westen hat die Tradition, ihn zu kritisieren, nie anderen überlassen“, stellt der französische Philosoph Pierre-Henri Tavoillot fest.

Von der konservativen Mitte bis zu den Rechtsradikalen ist heute ein Gegenprogramm in Mode: „Entscheidend aber ist, ob die Deutschen wieder lernen, dass sie ‚ein‘ Volk sind“ (J. von Altenbockum in der FAZ vom 4. 10. 2016). Als einer der Ersten rechnete übrigens Michel de Montaigne vor über 400 Jahren mit dem Keim einer Sorte von perversen „Lernprogrammen“ ab, für die „Völker anderer Zivilisationen Barbaren“ sind.

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12 Kommentare

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  • Leitkultur bedeutet nach meinem Verständnis etwas ganz banales: Unser Land, unsere Regeln.

    Und das ist nicht nur (aber auch) das Grundgesetz. Zusätzlich die Werte der Aufklärung, Humanismus, und auch der christliche Wertekatalog. Von "Du sollst nicht Töten" bis hin zur Nächstenliebe.

    Und diese Werte und diese Regeln gelten hier. Uneingeschränkt. Für jeden.

  • 3G
    32795 (Profil gelöscht)

    Der Kulturrelativismus ist der Tod des friedlichen Zusammenlebens. Wer mit zweierlei Maß misst spaltet und säht Zorn. So lange die bisher fehlgeschlagene Transformation der Gesellschaft nicht gelungen ist wird Kulturrelativismus nicht funktionieren können. Man baut das Dach nicht vor dem Keller.

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Woher stammt das Adorno-"Zitat"?

  • Ich konnte den Artikel nicht zu Ende lesen, da es sich die Argumentation in den ideologischen Elfenbeinturm verabschiedete.

     

    Die simple Frage ist doch, was macht das Leben und Sein in DEUTSCHLAND aus? Worauf möchten die Menschen nicht verzichten? Den Luxus der sozialen und wissenschaftlichen Errungenschaften möchte kaum einer missen. Auch wollen wir auf saubern und ordentlichen Straßen gehen und und und ... diese spießigen Kleinbürgerattribute kann man/frau mal für ein Zeit vergessen und anderes toll finden, aber ... am Ende aber doch nicht.

     

    Wenn ich die Wohnquartiere in Mittelstädten von NRW so anschaue, vermisse ich heute schon mancher Orts Dinge wie "Ordnung und Sauberkeit" ... im Vergleich zu anderen Orten der EU.

  • 1. Bis in das 18. Jhd. wurde der Begriff Kultur nicht in Verbindung mit menschlicher oder gesellschaftlicher Entwicklung verwendet. Dementsprechend wird vom Autor hier eine Begriffsgeschichte konstruiert die unwissenschaftlich ist.

    2. In der westlichen bzw. englischsprachigen wissenschaftlichen Fachdiskussion wurde ab dem 18. Jhd von "civilization" in Bezug auf menschlicher oder gesellschaflicher Entwicklung gesprochen. Die Verwendung des Begriffs Kultur, als Beschreibungsbegriff ist nur im deutschen Sprachraum üblich gewesen.

    3. Auch die Einführung einer neuen Begrifflichkeit (Plurikultur) ist ein weiterer Indikator für den Versuch des Autors, eine exklusive Deutungs-hoheit in einem Diskurs zu gewinnen.

  • Mit nachdenklichem Vergnügen gelesen.

    Ein feiner sidekick zu Stefan Kühl in

    Augenhöhe wie gewohnt. - & zudem -;)

     

    "...Aber wie soll man Homer, Mozart und Einstein mit Kolonialismus, Antisemitismus, Faschismus verrechnen?..."

     

    Ja wie? Dennoch bleibt der Solda positiv!;)

    Ja klar - Wenn der Horaz sich in den - upps -

    Homer rückverwandelt - Bleibt doch doch -

    Wenigstens - Ein ebensolches Gelächter!;()

    Danke - You made my day!;)) &

     

    More from this like Rudolf Walther et al.

    Genau wegen solcher Beiträge -

    Les ich ich weiterhin die e-taz!

    kurz - Kann gerne in eurer e-Umfrage -;)

    Genau - Verwurstert - werden!

  • Mein Gott, taz! Was druckst du hier für ein wirres Durcheinander gutgemeinter Nichtgedanken ab. Beschränken wir uns aufs Wesentliche, Rudolf Walthers Kernthese: Eine Leitkultur gibt es nicht, wohl aber eine Menge "unverseller" (also bis in ferne Galaxien reichender) Minimalstandards. Was diese Minimalstandards nun von leitkulturellen Normen unterscheiden soll, erfahren wir leider nicht. Dass der Streit um die Leitkultur nichts anderes ist als eben der Streit um einen Grundkonsens (also "Minimalstandards"), übersieht Walther. Unklar bleibt auch der Satz von der "Rückgebundenheit" der von Walther propagierten "Plurikultur" (hier wird der Ramschbegriff "Pluralismus" aufgepeppt) an die Mindestnormen. Bei ihm liest sich das wie eine Tatsache. Das aber ist es mitnichten. Nichts davon ist weltweit selbstverständlich, selbstverständlich sind die aufgezählten Normen und Werte noch nicht mal dort, wo sie selbstverständlich sein sollten, nämlich in der westlichen Kultur. Walther erhebt also Forderungen. Das sollte er aber bitte auch so nennen. Dass er damit unter seine Prophetenkategorie fällt, indem sich für eine Leitkultur auspricht, könnte ihm Anlass sein, seine Gedanken auf das Niveau zu bringen, das ein so komplexes Thema nun einmal erfordert.

  • Die eine Leitkultur in Deutschland gibt es nicht! Als Kultur wird heute fast jede Lebenssituation benannt. Da gibt es die Ess - und Trinkkultur, die Begrüßungskultur, die Wohnkultur, die Arbeitskultur und jeder versteht, je nach dem wo er in Deutschland, oder anderswo aufgewachsen ist. Die Einführung einer Leitkultur würde schon jetzt die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern verändern müssen!

     

    Meiner Meinung nach wird von der CDU/CSU eine bestimmte Verhaltensweise gegenüber Lebenssituationen angesprochen, die auf eine Vielzahl von Bundesbürgern überhaupt nicht zutrifft. Es geht da wohl in erster Linie um den Umgang mit den Deutschen Lebensmodellen, wie Weihnachtsmärkte, Volksfeste, der Umgang mit der Obrigkeit und dem geltenden Recht. Bis zu einem gewissen Punkt besteht da ja eine gewisse "Kulturnähe" aller, aber auch hier gibt es genug Einheimische die sich eine andere Lebensidee geschaffen haben.

     

    Vielen in Europa fehlt einfach die Grundlage eine sogenannte Leitkultur auch nur ansatzweise zu Leben, denn unter anderem versteht man und Kultur auch an kulturellen Ereignissen teilzuhaben, wie beispielsweise Theater, Sportveranstaltungen, Konzerten und jede Menge anderer Gelegenheiten an denen Menschen sich begegnen und mit einander Kommunizieren und Mitteilen. Kultur ist für sie zu Teuer!

    Wie soll man das mit einer Hartz IV Abhängigkeit bewerkstelligen, oder wenn man zwei bis drei Teilzeitjobs aus üben muss. Da geht es schon nicht den Kindern einen Kinobesuch oder das Schwimmbad zu ermöglichen. So werden unsere Nachfahren schon mal auf eine andere, Kultur getrimmt, Armut!

    Aus der Armut gibt es kaum ein entrinnen, denn Bildung, der einzige Weg, kostet viel zu viel Geld um aus dieser Abwärtsspirale heraus zu kommen!

    Wie wollen wir diesen Aspekt unserer Deutschen Kultur nennen!!!

  • 3G
    30404 (Profil gelöscht)

    Corporate Identity nutzlos ? Da muss ja Apple und co. jahrzehntelang was falsch gemacht haben ?

  • Barbaren sind immer die anderen. Zum Beispiel amerikanische Rednecks und Hillbillies, die Trump wählen.

  • in meinem ostdeutschen wohnort stehen im geschäft einer vietnamesischen textilhändlerin gartenzwerge jeglicher couleur, mit deutschlandfahne, mit nackten brüsten, kleine mit schubkarre, große mit spaten. dennoch wird die inhaberin von manchen ureinwohnern "fidschi" genannt.

     

    was tun, um anzukommen?

     

    im nachbarort entschuldigt sich eine vietnamesische gemüsehändlerin, daß sie so schlecht deutsch spreche. ob sie denn schon zu ddr-zeiten hier war, frage ich. ja, ich war arbeiterin in einer großen schuhfabrik. ach, da hat auch eine deutsche bekannte von mir gearbeitet, kennen sie die vielleicht? nein, wir waren getrennt in einer vietnamesischen abteilung mit vietnamesischem meister.

     

    also auch im land der völkerfreundschaft war ankommen schwierig.

  • "im Unterschied zu einer Ware sind kulturelle Differenzen nicht quantitativ messbar, weil Kulturen komplexe qualitative Ganzheiten bilden" STIMMT NICHT !!!! Natürlich sind Differenzen messbar. - Freiheit des Individuums, Freizügigkeit, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit etc. Das alles sind kulturelle Errungenschaften einer Gesellschaft, eines politischen Willens. Im Übrigen wiederspricht sich der Autor am Ende indem er sozusagen die Leitkultur der Plurikulturen beschreibt. Da hat sich die Katze in den Schwanz gebissen.