Debatte Konservative in Großbritannien: Zurück in die Zukunft
Was die Brexit-Tories von ihren Vorfahren lernen können: Sie müssen in die Opposition, um langfristig an der Macht zu bleiben.
N euerdings wird in Brüssel offiziell über den „Brexit“ verhandelt, aber keiner weiß, wie der britische Austritt aus der Europäischen Union ablaufen und wohin er führen soll. Und es wird auch keine Klarheit geben, solange die Tories an der Macht sind. Denn seit Theresa Mays Wahlniederlage am 8. Juni fehlt der britischen Regierung das parlamentarische Fundament, um Entscheidungen zu treffen. Sie hat sich in die Geiselhaft der kleinen, erzkonservativen nordirisch-protestantischen DUP begeben, die aber die Grenze zur Republik Irland unbedingt offenhalten will.
Sogar das einzige für die Tories positive Resultat der Wahl, ihre Wiedergeburt in Schottland, wird zur Belastung, denn die Konservativen im Norden mögen Europa. Ein harter Brexit ist damit unmöglich geworden. Theresa May hat keinen Handlungsspielraum mehr, weil ein Ergebnis, das die ganze Partei und deren Brexit-freudige Wähler befriedigen könnte, außer Reichweite ist.
Auch von der Opposition kann May keine Hilfe erwarten. Ihre Versuche, beim Brexit mit Labour zu kooperieren, sind schon im Ansatz gescheitert. Dafür spielt Tory-Außenminister Boris Johnson fröhlich weiter den Verfechter eines harten Brexit. So kommentiert er die finanziellen Ansprüche der EU: Die Europäer könnten „pfeifen gehen“ („go whistle“), frei übersetzt: „sich ihre Forderungen sonst wohin stecken“. Johnson will selbst Tory-Chef werden und spekuliert offen auf Mays Sturz. Allerdings wäre der einzig wirksame Befreiungsschlag für die Tories jetzt nicht Mays Demission, sondern der freiwillige Gang in die Opposition.
Denn neu ist die Zwangslage der Tories nicht. Die Wahlniederlage vom 8. Juni lässt die Probleme nur schärfer hervortreten. Vor allem zwei strukturelle Probleme stürzen Britanniens politisches System in die Krise: die Spaltung des Landes sowie die Spaltung der Tories.
Das Land zerfällt in diejenigen, denen die globalisierte Welt nützt und die dies auch wissen, und diejenigen, die sich in der neuen Weltordnung abgehängt fühlen und einem chauvinistischen Populismus verfallen, der längst ein gesamteuropäisches Phänomen darstellt. Diese von der Ukip aufgestachelten Wähler haben den Brexit möglich gemacht.
Das gleiche Dilemma
Aber ohne die Zerrissenheit der Tories hätte es das Referendum nie gegeben. Expremier David Cameron hatte die Volksabstimmung ja nur angesetzt, um den starken rechten Flügel seiner Partei zum Schweigen zu bringen – also jene Tories, die einer Karikatur des Thatcherismus anhängen, radikale Marktgläubigkeit gepaart mit antieuropäischem Ressentiment. Obwohl diese Richtung die Partei nicht völlig dominiert, ist sie doch stark genug, konservative Regierungen vor sich her zu treiben.
So steht May vor dem selben Dilemma, an dem schon Cameron scheiterte, nur ist sie viel schwächer als er. Der einzige Weg, der ihr bleibt, der weiche Brexit, widerspricht der Gefühlslage ihrer Partei und würde den erbitterten Widerstand der 60 Tory-Hardliner im Unterhaus wecken. Keine Tory-Regierung hätte derzeit die Kraft, aus eigener Kraft einen weichen Brexit zu bewirken. Daran würde auch ein Sturz Mays nichts ändern. Wechseln würde nur das Personal, nicht die Strukturen.
Folglich könnten Johnsons frische Rüpeleien gegen die EU indirekt einen Sinn ergeben. Da er weiß, dass keine Tory-Regierung die eigene Partei für einen sanften Brexit gewinnen kann, ist er wohl schon einen Schritt weiter. Strategisch wäre es für die Tories nämlich ideal, wenn sie sich nicht nur von May, sondern gleich auch von der Macht trennen würden.
Ihr Weg in die Opposition würde einen weichen und ernüchternden Brexit unter Labour-Chef Corbyn ermöglichen, ohne dass die Tories die Verantwortung dafür tragen müssten. Sie könnten weiter auf ihre Prinzipien pochen: Lieber Opposition, als die Vision eines unabhängigen Vereinigten Königreichs verraten. So würden die Tories das Unausweichliche möglich machen, den weichen Brexit, und zugleich die Zerreißprobe vermeiden. In der Opposition könnten sie jene Einigkeit zurückgewinnen, die Cameron mit dem Brexit-Referendum einst hatte herstellen wollen.
Beispiel Getreidezölle
Etwas Ähnliches haben die Konservativen schon einmal gemacht. 1846 ging die reaktionäre Mehrheit der Tories in die Opposition, statt eine Politik mitzutragen, die sie ihre Identität gekostet hätte. Damals ging es um die Getreidezölle und den Übergang zum Freihandel. Der die Partei dominierende Landadel weigerte sich trotz der irischen Hungersnot, die Schutzzölle auf Getreide aufzuheben.
Der konservative Premier, Sir Robert Peel, der diese Zölle streichen wollte, wurde von der Mehrheit der eigenen Partei gestürzt und stützte mit seinen verbliebenen Anhängern eine neue liberale Regierung, die den Freihandel schon aus ideologischen Gründen verfocht.
Bei den Tories hatte zwar zunächst die Reaktion gesiegt, aber in der Opposition mussten sie sich grundsätzlich darüber verständigen, was es in einer modernen Welt heißt, konservativ zu sein. Unter Benjamin Disraeli entwickelten sie das Prinzip der „Tory Democracy“ und lernten, die Demokratie anzuerkennen, um sich langfristig die Rückkehr an die Macht zu sichern. Johnson denkt gern historisch – fast scheint es, als würde er die Geschichte wiederholen und den neuen Disraeli spielen wollen.
Ein Vorgehen, das zuallererst auf die Gefühle der Partei achtet, wäre typisch für ihn. Beim Referendum hatte er sich ja erst spät für den Brexit entschieden, vor allem um Cameron zu schaden und seine Macht in der Partei auszubauen. Wenn Johnson die Tories in die Opposition führte, könnte er dazu beitragen, sein Land und seine Partei aus der Misere zu befreien, die sein Taktieren mitverursacht hat. Doch müsste er den Tories dann auch einen Weg zurück nach Europa zeigen.
So wie Disraeli seine Partei in der Opposition einen demokratischen Konservativismus lehrte, müsste Johnson eine neue, für konservative Skeptiker verdauliche Europa-Politik entwerfen. Dabei könnten das Vorbild Disraelis wie auch Johnsons eigene antieuropäische Propaganda Pate stehen: im Sinne einer radikalen Demokratisierung der europäischen Institutionen.
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