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Debatte KinderbetreuungGlucke oder Rabenmutter?

Ruth Reichstein
Kommentar von Ruth Reichstein

In Belgien ist die Kinderversorgung bestens geregelt. Dafür gibt es keine Vätermonate und auch nicht mehr Chefinnen. Ein Blick über die Grenze.

Fortschrittlich und selten: In Schwerin gibt es eine 24-Stunden-Kita für Kinder von SchichtarbeiterInnen. Bild: dpa

E ine einzige Anfrage und mein Sohn hatte seinen Kita-Platz: in der gleichen Straße wie unsere Wohnung, für rund 500 Euro im Monat. Die Betreuungszeit lässt sich flexibel gestalten – je nach meinem Arbeitsrhythmus in der Zeit zwischen halb acht am Morgen bis halb sieben am Abend. Die Erzieherin kümmert sich in der Gruppe außer um meinen Sohn nur noch um zwei andere Kinder. Das Betreuungskonzept, das wir auch in schriftlicher Form bekommen haben, überzeugt.

Das sind paradiesische Zustände. Das ist belgische Normalität. Wenn ich meinen Freundinnen in Deutschland davon erzähle, werden sie entweder wütend oder depressiv. In München kostet die Betreuung fast 1.000 Euro im Monat, und das Kind muss jeden Morgen durch die halbe Stadt gekarrt werden, weil in der näheren Umgebung überhaupt kein Platz zu finden war.

Die meisten meiner Freundinnen, die in den vergangenen Monaten Mutter geworden sind, haben schnell aufgegeben und bleiben nun mindestens ein Jahr zu Hause und betreuen den Nachwuchs selbst. Einige haben es sich so ausgesucht. Aber die meisten verzichten auf Job und Karriere, weil sie keine (bezahlbare) Alternative zur Vollzeitmama gefunden haben.

Ruth Reichstein

lebt seit über sechs Jahren in Brüssel. Sie ist Europakorrespondentin der taz und berichtet als freie Autorin für verschiedene Medien über die Politik der Europäischen Union und über Belgien.

Spätestens in einem Jahr soll in Deutschland ja bekanntlich alles besser werden. Dann gibt es den Rechtsanspruch für einen Kitaplatz für die Kleinen. Aber die Kommunen warnen immer lauter davor, dass das Angebot die Nachfrage niemals abdecken wird. Und auch die deutsche Bundesregierung räumt ein, dass mindestens noch 160.000 Kitaplätze fehlen, um zumindest das gesteckte Ziel zu erreichen, für 35 Prozent der Kleinkinder Plätze anzubieten. Nach den Schätzungen der Kommunen liegt der eigentliche Bedarf bei über 60 Prozent.

In Belgien gibt es keine gesetzliche Garantie für die Betreuung von Kleinkindern. Aber es funktioniert trotzdem besser als in Deutschland. Auch kann es natürlich passieren, dass eine Familie auf einen Betreuungsplatz warten muss. Daher sollte man sich spätestens im sechsten Schwangerschaftsmonat vormerken lassen.

Zurzeit werden in Belgien fast die Hälfte der Kinder unter drei Jahren außerhalb der Familie betreut – in staatlichen oder privaten Kindertagesstätten. In einigen Regionen des Landes sind es sogar über 60 Prozent. Und die Betreuung ist bezahlbar. In den staatlichen Kitas sind die Beiträge nach dem Einkommen gestaffelt. Aber auch die privaten können sich die meisten Doppelverdiener leisten – nicht zuletzt, weil der Staat die Krippen, die bestimmte Auflagen erfüllen und staatliche akkreditiert sind, anteilig subventioniert. Für die frankofonen Einrichtungen waren das 2010 rund 100 Millionen Euro.

Und was macht NRW?

Außerdem kann der gesamte Betrag für die Kinderbetreuung von der Steuer abgesetzt werden. In Deutschland knacken die 50-Prozent-Marke bei der Betreuung der Kleinsten gerade einmal drei Bundesländer: Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Brandenburg. Das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen – direkter Nachbar von Belgien – erreicht noch nicht einmal 20 Prozent Betreuungsanteil.

Während auf der einen – nämlich der deutschen – Grenzseite die Mütter noch immer schief angeschaut werden, wenn sie schon bald nach der Geburt wieder arbeiten wollen, gilt in Belgien die Tradition, Frauen so schnell wie möglich wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. Das hat ebenfalls extreme Auswirkungen zur Folge – wenn auch in die völlig entgegengesetzte Richtung: Spätestens vier Monate nach der Geburt geben die meisten Familien ihren Nachwuchs in die Betreuung – in Kindertagesstätten oder zu Tagesmüttern. Diese frühe Trennung ist für viele Mütter grausam und führt auch dazu, dass nur die wenigsten darüber hinaus ihre Babys stillen.

Einige verlängern die Auszeit um drei weitere Monate. Allerdings müssen sie in dieser Zeit auf ihren Lohn verzichten und bekommen vom Staat nur Almosen von höchstens 300 Euro im Monat. Eine Regelung wie Elterngeld kennen die Belgier nicht, auch keine Erziehungszeit für Väter. Wollen sie länger zu Hause bleiben, müssen sie das selbst finanzieren. Das ist auch eine gewisse Art der Gleichberechtigung. Allerdings wirkt sich das kaum auf die Karriere aus – in Belgien schaffen es nicht mehr Frauen in Spitzenpositionen als in Deutschland.

Und Müttern und Vätern, die sich länger um den Nachwuchs kümmern wollen, wird keine Garantie gegeben, dass sie ihren Arbeitsplatz behalten werden. Mit einem Paradies für Eltern hat das wenig zu tun.

Immer diese Extreme

Ganz persönlich hatte ich Glück: Ich konnte mir aus beiden Ländern das Beste zusammensuchen und so entscheiden, wie es mir für meinen Sohn und für mich selbst am besten erschien: Acht Monate sind wir gemeinsam zu Hause geblieben, und dann haben wir uns langsam umgewöhnt – zunächst mit Teilzeit in der Kita und schließlich mit Ganztagsbetreuung. Aber das ist Luxus – in Belgien und in Deutschland – nur eben aus ganz gegensätzlichen Gründen.

Im Zuge der Diskussion um die Kitaplätze in Deutschland streiten sich nun auch wieder Verhaltensforscher, Psychologen und Soziologen darum, welche Variante – mit Mama zu Hause oder mit Freunden in der Kita – wohl die bessere ist für die Kinder. Zu einem einheitlichen Ergebnis kommen sie dabei selten.

Ich frage mich, warum die Regierungen nicht dafür sorgen können, dass es den Familien – und allen voran den Müttern – überlassen bleibt, ihr Familien- und Arbeitsleben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten. Dabei würde ein etwas europäischerer Blick über die jeweilige Grenze gut tun. Denn weder die Mutter, die mehrere Jahre zu Hause bleibt und sich rund um die Uhr um ihre Kinder kümmert, noch die Mutter, die nach wenigen Monaten wieder anfängt, Vollzeit zu arbeiten, ist von vornherein eine Glucke oder eine Rabenmutter.

Inakzeptabel ist nur, wenn sie zum einen oder zum anderen Extrem gezwungen wird, weil die Gesellschaft und die Strukturen ihr keine andere Wahl lassen. Das zu ändern, ist die eigentliche Aufgabe von erfolgreicher Familienpolitik.

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Ruth Reichstein
Auslandskorrespondentin EU
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11 Kommentare

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  • LS
    Ludwig Staab

    @ let it be:

    Wenn ich sie richtig verstehe, glauben sie, die Gegner des Betreuungsgeldes haben alle ein schlechtes Gewissen.

     

    Warum sollten sie ein solches haben???

    (Die Frage stellt sich, auch und gerade wenn man wie ich das Betreuungsgeld nicht pauschal ablehnt!)

     

     

    Sorry, aber ihr Beitrag impliziert, sie fühlen sich schlecht, weil sie letztlich halt doch schlechte Eltern sind- zumindest fällt es mir schwer ihre Zeilen anders zu interpretieren.

     

    Und damit sind wir leider wieder beim Thema "Feindseligkeit".

  • LI
    let ist be

    @Ludwig Staab

    "Bei den übrigen Artikeln, insbesondere zum Thema "Betreuungsgeld" stehe ich oft nur noch fassungslos vor der unglaublichen Intensität der Feindseligkeit und Wut, die dieses Thema auslöst."

     

    bekanntlich macht nichts aggressiver als ein schlechtes Gewissen.

     

    Rabenmutter, dieses Wort ist eher eine Selbstbezichtigung.

    Ich habe diesen Vorwurf gegen eine andere Mutter noch nie gehört, Glucke hingegen schon, meist ausgesprochen von Männern, selten von in beziehunglebenden Vätern.

     

    Wir sollten nicht so tun, als gäbe es keinen Dissenz zwischen karriereorientierten Eltern und familienorientierten.

     

    Es gibt ihn !

    Sowohl in der Konkurrenz um den Arbeitsplatz als auch um die Finanzierung der Betreuungsangebote und die Qualität der unterschiedlichen Betreuungsformen und auch in Konkurrenz der unterschiedlichen Familienformen.

     

    Zusätzlich gibt es die Gruppe der Kinderlosen, von denen sich sehr viele gegenüber Familien benachteiligt sehen und generell familienbezogene Leistungen hinterfragen.

     

    Dass im Streit jede Gruppe für sich alleine nur verlieren kann, ist den Gruppenmitgliedern vielleicht schon bewußt aber fast alles, was unser Selbstbild betrifft, wird auf einer hochemotionalen Art behandelt.

     

    Mich widert das ganze neiderfüllte Geschachere auch an, aber dadurch ist der Konflikt nicht gelöst.

     

    Etwas mehr Ehrlichkeit und Selbstreflexion wäre aber durchaus hilfreich.

  • FE
    Frau Edith Müller

    Eine Abtreibung hätte es doch auch getan, Frau Reichstein, wenn Sie auf Balg, aber nicht auf Job verzichten können. Linke scheinen Kinder auch nur als Accessoire zu haben; benötigt man es nicht, kommt es in die Schatulle...

  • G
    Grenzer

    Grenznahe 0rte haben hier mal wieder Standortvorteile. So haben in Aachen wohnende Freunde von mir ihr Kind jeden Tag nach Belgien gefahren, weil es dort problemlos einen Kitaplatz bekam.

  • N
    Normalo

    Was will uns dieser Kommentar sagen, außer dass die Autorin sich gerne waschen lässt aber ungern nass wird?

     

    Natürlich wäre es super, wenn "der Staat" die Penunzen übrig hätte, um eine flächendeckende, problemlose, pädagogisch wertvolle Ganztagsbetreuung für Alle zu finanzieren und gleichzeitig noch Unmengen an Geld in die Finanzierung von Auszeiten der Eltern zu stecken. Hat Papa Staat aber nicht - und nun?

     

    Man muss Frau Reichstein Recht geben, dass in Deutschland - nicht nur, aber besonders - unter den Frauen ein Klima der allgemeinen Missgunst und Intoleranz herrscht gegenüber allem, was vom selbst gewählten Weg abweicht. Das "Conventional Wisdom" wabert - wahrscheinlich aus Angst der Einzelnen, mit ihrem Lebensmodell selbst in Verruf zu geraten - in einem unerklärlichen Radikal-Positivismus, der kein "auch gut" gelten lässt.

     

    Das Resultat ist eine Politik, die ebenfalls vom einen Extrem zum andern schwankt. Im einen Moment werden riesige Mittel fürs Elterngeld freigemacht (das natürlich trotzdem nicht ohne den Vorwurf auskommt, unsozial zu sein), nur um im nächsten Moment festzustellen, dass dieses Geld jetzt den KiTas fehlt. Das wird dann wieder durch Förderung von Heimbetreuung kaschiert, die von den KiTa-Fanatikern als Herdprämie beschimpft wird.

     

    Dazu kommen noch Versuche, die Wirtschaft in eine neue Mütterfreundlichkeit reinzudrangsalieren. Aber das geschieht durch pauschale Förderung von Frauen, die genausogut auch kinderlos sein können - und lässt damit betreuungswillige Väter außen vor, die das natürlich für die Ungerechtigkeit schlechthin halten. Also ändert man ein wenig am Sorgerecht...

     

    Kurz: Es läuft Alles ganz furchtbar ideologisch-gradlinig in alle Richtungen gleichzeitig, und am Ende kommt nichts rum. Ein klein wenig weniger teutonische Verbissenheit würde wahrscheinlich Wunder wirken...

  • H
    Halunke

    Man kann Deutschland nicht mit Belgien,Frankreich oder Östereich vergleichen was Kinder betrifft.Deutschland ist das Kinderunfreundlichste Land in Europa,hier müssen sogar Gesetze geschmiedet werden um Kigas/Kitas klagesicher in Wohngebiete bauen/eröffnen zu können.Desweiteren erhöt ein Kind das Armutsrisiko,und wer mehr wie zwei hat gilt als assozial...)Elterngeld und Berteuungsgeld gibt es nur für die Reichen wo es gar nicht nötig haben.Genau so schafft sich Deutschland selbst ab...:)

  • J
    Joller

    Ein ausgewogener Kommentar mit vielen praktischen Einzelheiten - danke, ich schließe mich dem Fazit an.

  • LS
    Ludwig Staab

    Huhh, endlich mal ein halbwegs differenzierter Beitrag zum Thema Kinderbetreuung! Bei den übrigen Artikeln, insbesondere zum Thema "Betreuungsgeld" stehe ich oft nur noch fassungslos vor der unglaublichen Intensität der Feindseligkeit und Wut, die dieses Thema auslöst.

  • E
    Eulenspiegel

    Die Regierenden hier sind auffallend blöder als in anderen Ländern. Und das nicht nur in Sachen Kinderplätze.

  • T
    tazleser_by

    Da habe ich von einer Mutter mir belgischem Ehemann aber anderes gehört:

    Die Kitas sind dort im Prinzip nur Kinderauffangstationen; es herrscht Massenabfertigung, keine wirkliche Beschäftigung oder Projekte mit den Kindern; teils trostlose Beton KiTas ohne Begrünung; Babies in Gitterkäfigen; wie zu DDR Zeiten von früh bis spät in der KiTa und abends nur noch Essen und ins Bett

    --> NEIN DANKE!

     

    Aber wenn sich unsere linken Frauen das wünschen, warum das Kind nicht gleich nach der Geburt zur Adoption freigeben?

  • H
    Horsti

    "Dabei würde ein etwas europäischerer Blick über die jeweilige Grenze gut tun."

     

    Korrekt. In Belgien gibt es z.B. eine, gesetzlich verankerte, Möglichkeit hälftig zu betreuen, Stichwort Wechselmodell. Leider wird diese Möglichkeit in Deutschland von den Frauen- und Alleinerziehendenverbänden torpediert.