Debatte Kaczynski-Tod: Einig im Schmerz
Gab Präsident Kaczynski den Befehl zur Landung seines Flugzeugs? Die Frage nach seinem Anteil am Unglück empfinden viele Polen als Angriff.
M an könnte glatt zur Verschwörungstheoretikerin werden. Nicht etwa, weil man glauben müsste, dass die Russen beim Absturz der polnischen Tupolew 154 ihre Hände im Spiel gehabt haben könnten. Auch nicht, weil sich hinter der Auslöschung polnischer Amts- und Würdenträger, die in unglaublicher Zahl an Bord waren, nur ein gezielter deutsch-russischer Anschlag vermuten ließe. Nein, um solche pathologischen Erklärungen für das Unglück geht es nicht.
Aber man könnte fast einer rationalen Verschwörungstheorie anhängen, so laut ist das Schweigen, wenn es um die unmittelbare Unglücksursache geht. Wieso wird über die Auswertung der Flugschreiber noch immer so wenig bekannt? Immerhin konnten diese schon am Samstag in brauchbarem Zustand geborgen werden. Wieso gab es in Polen tagelang keine offiziellen Stellungnahmen dazu, keine öffentliche Debatte in den Medien?
Ein zentrales Moment des Unglücks wird damit auf die Ebene der Gerüchte verwiesen. Wir haben es also mit einem Fall zu tun, wo das wirklich Obsessive, das Irrationale nicht in den Gerüchten, sondern in der Zurückweisung der Gerüchte liegt.
Denn bereits die Diskussion um die Frage nach Ursache und Schuld erleben viele Polen als Angriff. Doch wenn der Pilot trotz eindringlicher Warnung der Bodenstation vor massiv eingeschränkter Sicht vier Mal zu landen versucht, dann steht die Frage im Raum, was ihn zu dieser Wahnsinnstat verleitet haben mag. Die Vermutung liegt nahe, dass es dabei einen Zusammenhang mit seinem Vorgesetzten und dem Präsidenten gab, ob es sich nun um deren bloße Anwesenheit oder expliziten Druck handelte.
Woher rührt die massive Abwehr dieser bloßen Vermutung? Warum darf Lech Kaczynski keine Mitschuld an seinem schrecklichen Unfalltod (und an dem der anderen Passagiere) tragen.
Eine Antwort darauf liefert der sofort einsetzende Kult um den zu Lebzeiten durchaus umstrittenen Präsidenten. Alle huldigen heute geschlossen dem einstigen Polarisierer. Selbst Adam Michnik entschuldigt sich in der Gazeta Wyborcza für seine früheren "Fehleinschätzungen" des Präsidenten, den er nun als großen Patrioten würdigt. Das lässt sich nicht allein mit der Pietätsforderung, über Tote nur Gutes zu sagen, erklären. Lech Kaczynski repräsentiert heute das zentrale Moment des polnischen Selbstverständnisses: Er ist ein tragischer Held. Tragisch ist sein verfrühtes Ende, klar. Aber wieso ist er ein Held?
Nun, dies war keine Privatreise. Kaczynski sowie alle anderen Funktionsträger an Bord fuhren als Amtsträger zum Opfergedenken nach Katyn. Mittlerweile weiß wohl jeder, was es mit diesem Ort auf sich hat. Kaczynski und die Vertreter des offiziellen Polens fuhren quasi als "Rächer" der tausenden ermordeten polnischen Offiziere nach Russland, und Kaczynski hatte bekanntlich eine russenkritische Rede im Gepäck. Darum ist er für viele Polen ein Held, denn er verstarb im Dienste der Nation, bei der Verteidigung des Vaterlandes. Dies galt seit je als höchste Form des Patriotismus.
Opfermythos und Verklärung
Kaczynski habe sich für Polen geopfert, so lautet das Narrativ. Dies ist die Erzählung, die viele Polen im Innersten ergreift. Deshalb darf er auch keine Mitschuld - etwa durch einen unverantwortlichen Landebefehl - an seinem Ende tragen. Und deshalb auch der Beisetzungsort auf der Burg Wawel, der Königen und Nationalhelden vorbehalten ist. Wobei die nationale Erzählung "Opfer bringen" und "Opfer sein" umstandslos gleichsetzt.
Der tote Lech Kaczynski verkörpert dieses Opfer, diese Katastrophe. Das wird besonders deutlich am - auch für Außenstehende - beklemmenden Bild des Bruders, der am Sarg seines Zwillings kniet. Gerade weil dieser (nahezu) genauso aussieht wie der Verstorbene - der ja erst durch seinen Tod diese allpolnische Dimension erlangt hat -, wird er zu einem gespenstischen Wiedergänger. Man versteht, warum ihm bei den kommenden Präsidentschaftswahlen keine Chancen zugesprochen werden, denn er sieht genauso aus - und lebt! (Wobei die Zwillingsähnlichkeit diesem polnischen "Nepotismus" immer schon eine eigene Note, um nicht zu sagen ein eigenes Gesicht, gegeben hat.)
Eine Nation erst in der Tragödie
Nun ist dieses ganze Amalgam eine Form des Nationalismus, den wir hierzulande nicht (mehr) kennen: ein stark religiös konnotierter Patriotismus, eine immense Bindung an eine mit mystischem Charakter ausgestattete Gemeinschaft. Die polnische Besonderheit liegt nicht nur in dessen ungebrochener Lebendigkeit, sondern auch in der unglaublichen Betonung des Opfertums. Polen als Vaterland, das Ganze des polnischen Volkes als Imagination entsteht gerade durchs Opfer. Das sogenannte Polentum "lebt" durch den heldenhaften Untergang. Es "lebt" in der Katastrophe.
Dem fernen Betrachter erscheint das paradox. Ebenso unverständlich ist ihm der emotionale Ausnahmezustand, in dem sich das ganze Land seit Tagen befindet. Natürlich trauert ein Land, wenn ein erheblicher Teil seiner politischen Elite verunglückt. Natürlich geht das Mitgefühl über politische Differenzen hinweg. Unverständlich wird es nur, wenn die nationale Trauer zu einer tiefen persönlichen Betroffenheit eines ganzen Volkes wird; wo die Anteilnahme der Staatsbürger zum privaten Mitleiden wird. Man sehe sich nur die Gesichter der trauernden Polen an.
Viele Polen sähen dieses Unglück als symbolisches Zeichen, schrieb der polnischstämmige Autor Artur Becker - ein Zeichen, das sich rationalen Erklärungen seiner Ursache eben entzieht. Die Polen erleben diese Katastrophe als eine zutiefst metaphysische Erfahrung. Aber auch nüchternere Stimmen - etwa der Publizist Adam Krzeminski - sprechen von einer nationalen Totenmesse.
Ob es sich dabei wirklich um eine Läuterung handelt, wie Krzeminski im Radio meinte (mit dem bezeichnenden Versprecher, eine "Läuterung über alle politischen Gräber hinweg")? Oder handelt es sich nicht eher um eine Bekräftigung des Kollektivs? Die Katastrophe vereint die Polen im Schmerz. Aber kann daraus eine "geläuterte" Gesellschaft entstehen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen