Debatte Japanwahlen: Kurswechsel unter Schock
Bislang war der autokratische Beamtenstaat sakrosankt. Doch jetzt entdeckt die Opposition junge Menschen und Frauen als WählerInnen.
J apan wurden in seiner modernen Geschichte radikale Veränderungen immer wieder von außen aufgezwungen, weil die konservativen Beharrungskräfte im Innern einfach zu mächtig waren und den Status quo so lange wie möglich verteidigten. 1853 waren es die schwarzen Kanonenboote von US-Commodore Matthew Perry, die die selbst gewählte Isolation der Edo-Zeit nach zweieinhalb Jahrhunderten Feudalismus beendeten. Auf die Göttlichkeit ihres Kaisers verzichteten die Japaner erst, nachdem 1945 zwei ihrer Städte im Feuersturm einer Atombombe verglüht waren und ihr Inselreich erstmals von einer fremden Macht, den USA, besetzt wurde.
Nun sind wieder schwarze Schiffe vor der Küste aufgetaucht, diesmal in Gestalt der Weltrezession. Binnen Monaten ist die Wirtschaftsleistung auf den Stand von 2004 geschrumpft. Dieser exogene Schock zwingt das Land erneut dazu, seine politische Ordnung zu modernisieren und die nationalen Ziele zu überdenken. Am Ende könnte ein "normaleres", demokratischeres und offeneres Japan stehen, das einen Platz in Asien gefunden hat.
Der Niedergang hatte vor zwanzig Jahren begonnen, als die größte Spekulationsblase aller Zeiten platzte. 1989 war das Grundstück des Kaiserpalastes so viel wert wie ganz Kalifornien - dagegen verblassen die aktuellen Übertreibungen auf dem Immobilienmarkt in England und den USA. Seitdem schrumpften die Vermögen, etwa die Boden- und Aktienpreise, ebenso wie Einkommen und Lebensstandard. Nun wirkt die Weltrezession noch als Beschleuniger. Ein erster Höhepunkt des Umbruchs steht am Sonntag an: Die Liberaldemokratische Partei (LDP), die seit 1955 fast ununterbrochen regiert hat, wird aller Wahrscheinlichkeit nach abgewählt.
Die LDP hatte zwar 1993/94 kurz die Macht abgegeben, doch die heterogene Gegenkoalition brach bald zusammen. Erst seit wenigen Jahren gibt es mit der Demokratischen Partei (DPJ) eine gefestigte Opposition. Diese Mitte-links-Partei wird eher von den jüngeren Generationen und den Frauen unterstützt, kann aber diesmal auch auf die Stimmen der Bauern zählen. Erst seitdem sich die DPJ zur Volkspartei entwickelt hat, formulieren die Parteien "Wahlmanifeste". Kaum zu glauben, aber Japans Parteien kamen sehr lange ohne Wahlprogramme aus. Die Kandidaten hatten ihre eigenen Ideen. Wer gewann, gehörte zur LDP. Diese Anomalie ist vorbei. Die DPJ hat ihre Kandidaten auf das Wahlprogramm verpflichtet. Ihre Wähler wissen, welche Politik sie erwarten können. Mit dem Beginn des Zweiparteiensystems erleben die Japaner endlich den Segen der Alternative.
Damit nicht genug: Nach der LDP will die DPJ einen zweiten Grundpfeiler der alten Ordnung wegschlagen. Bisher dienten Politik und Wahlen in Japan nämlich als Fassade für einen Beamtenstaat. In sechseinhalb Jahrzehnten verschliss Nippon 30 Premierminister, auf Kurs gehalten wurde der Staat von den Mandarinen. Die Beamtenelite kümmerte sich im Verbund mit politischen Baronen und der Großindustrie seit dem Krieg um den Erhalt der industriellen Kapazität. Das mächtige Handels- und Industrieministerium war das Symbol für diese Strategie. Das Finanzministerium setzte für seine Ziele einen Schattenhaushalt ein, der die Spareinlagen der Bürger zur billigen Kreditaufnahme benutzte, aber komplett am Parlament vorbeiging. Die DPJ hat versprochen, den Autopiloten des Beamtenstaates abzuschalten und die Mandarine an die Kandare zu nehmen. Durch die Einführung der doppelten Buchführung will man versteckte Haushaltsschätze finden.
Auch die Praxis des "Amakudari" (vom Himmel herabsteigen) soll verschwinden, der Wechsel von pensionierten Beamten in die Privatwirtschaft, damit sich die Staatsdiener dem Steuerzahler und nicht ihrem späteren Brotgeber verpflichtet fühlen. Auch die regelrechte "Vererbung" von politischen Mandaten soll aufhören. Die Familie von Expremier Junichiro Koizumi zum Beispiel sitzt schon seit 101 Jahren im Parlament.
Weitere Tabus werden fallen: Im alten Geschäftsmodell der Japan AG sorgten die Firmen für soziale Sicherheit, etwa durch die Garantie lebenslanger Beschäftigung. Doch dieser "Gesellschaftsvertrag" ist zerbrochen. Nun muss der Staat ein Auffangnetz spannen, muss die extrem geringen Hilfen für Arbeitslose, Arme und Familien an die soziale Wirklichkeit anpassen. Die DPJ wird mehr Solidarität mit den Schwachen zeigen - das ist lange überfällig. Mit niedrigeren Abgaben will man den Privatkonsum stärken und dadurch die Exportschwäche ausgleichen.
Auch die Außenpolitik steht auf dem Prüfstand. Seit dem Krieg gleicht Japan einem Protektorat der USA. Die Insel Okinawa ist Basis für die einzige vorwärts stationierte US-Flotte. Kürzlich kam heraus, dass die Regierung in Tokio seit 1959 US-Schiffen heimlich erlaubt, ohne vorherige Genehmigung mit Atomwaffen an Bord in Japan anzulegen - ein Verstoß gegen die eigenen drei antinuklearen Prinzipien, weder Atomwaffen herzustellen, zu besitzen noch ins Land zu lassen. Die DPJ will diesen Geheimvertrag prüfen und über den verabredeten Neubau eines US-Militärflughafens auf Okinawa neu verhandeln. Japan soll sich stärker nach Asien orientieren, ist ihre Vorstellung, bis hin zu einer gemeinsamen Währung. Eine logische und notwendige Entwicklung - nach Asien gehen die meisten Investitionen, China ist der wichtigste Handelspartner. Die Folge wäre eine größere Distanz zu Washington.
Der absehbare Regierungswechsel in Tokio ist ein großes und gewagtes Experiment. Die konservativen Gegenkräfte sind nicht zu unterschätzen, und die Opposition könnte an ihrer Herkulesaufgabe zerbrechen. Die DPJ weiß um ihren historischen Auftrag, aber ihren Politikern fehlt es an Erfahrung. Ihre bekanntesten Gesichter sorgen für gedämpfte Erwartungen. Der designierte Regierungschef Yukio Hatoyama gilt als wenig standfestes "Softeis" - und Ichiro Ozawa, der starke Mann im Hintergrund, als unberechenbar und manipulativ. Doch dieser Wechsel ist vielleicht die letzte Chance für Japan, den Niedergang zu stoppen und sich wie nach 1853 und 1945 neu zu erfinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Linke gegen AfD und BSW
Showdown in Lichtenberg
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten