Debatte Globalisierung: Weltbürger, vereinigt euch!
Bislang kennen wir die Globalisierung nur „von oben“, aber nun formiert sich eine Gegenbewegung: Eine Alternative zur Konkurrenz der Ausgebeuteten.
G eschichten über die Globalisierung gibt es viele. Herr T. hat auch eine zu erzählen. Er ist Anfang 40, spricht mehrere Sprachen, ist verheiratet und sehr flexibel. Auf den Bachelor hat er noch den Masterabschluss in Wirtschaftswissenschaften gesetzt. Einige Jahre arbeitete er als Logistikmanager – bis er mit Mitte 30 beschloss, ins Ausland zu gehen, um noch mehr rauszuholen aus seinem selbstunternehmerisch angelegten Leben.
Wie Herr T. machen es viele Deutsche. Sie absolvieren Praktika in anderen Ländern oder heuern als Saisonhilfen im Nicht-EU-Ausland an, etwa in der Schweizer Feriengastronomie. Manche werden ganz offiziell von den Arbeitsagenturen in die Ferne vermittelt.
Es gibt sogar welche, die lassen sich bei ihrer persönlichen Globalisierung filmen: „Die Auswanderer“ heißt eine Dokusoap auf Vox, die BundesbürgerInnen dabei begleitet, wie diese – oft ohne jede Sprachkenntnis – etwa ins gebeutelte Spanien ziehen, um dort schwarz-rot-goldene Bierlokale aufzumachen. „Immer noch besser als Hartz IV“, sagen manche und haben damit vermutlich recht.
lebt und arbeitet als freie Autorin in Hamburg. In ihrem Sachbuch „Echtleben – Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben“ (Eichborn Verlag, 2011) setzt sie sich mit den prekären Erwerbsbedingungen in der Kreativwirtschaft auseinander. Zuletzt erschien von ihr das Reportagebuch „Rasende Ruinen – Wie Detroit sich neu erfindet“ (Suhrkamp Verlag, 2012). Sie bloggt regelmäßig auf www.katjakullmann.de/blog.
Herr T. ist auch so ein zupackender Typ Mensch. Ganz klein fing er im Ausland neu an, als Reinigungskraft. Plötzlich verfrachtete man ihn dort ins „Gefängnis“ – in Abschiebehaft. Statt seine eigenen Brötchen zu verdienen, musste er essen, was ihm vorgesetzt wurde und „den ganzen Tag aus dem Fenster schauen“. Man sagte ihm, er müsse Asyl beantragen – dabei wollte er doch gar nichts von diesem fremden Staat, nur mitarbeiten! Nun will er nur noch eines: schnell zurück nach Hause, wo man „über Nacht zum Millionär werden“ kann.
Herr T. heißt Bello Taofik und kommt aus Nigeria. Die Zeit in Deutschland sei erniedrigend gewesen, nie würde er seine Kinder hinziehen lassen, sagt er. „Aber wenigstens ist es eine Erfahrung. Ich habe was von der Welt gesehen.“ Herr Taofik betrachtet sich als Weltbürger, und seine Geschichte ist in dem Buch „Blackbox Abschiebung“ nachzulesen, das kürzlich im Suhrkamp Verlag erschien. Der Autor Miltiadis Oulios lässt darin „Leute, die gern geblieben wären“, zu Wort kommen.
Systemfragen aus der Mittelschicht
So naiv wie Herr Taofik vielleicht an die Sache mit der Globalisierung herangegangen ist, so naiv erscheint auf den ersten Blick auch seine Idee des Weltbürgertums – die Vorstellung, dass alle überall die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben sollten, unabhängig von Hautfarbe oder Besitz.
Tatsächlich drängt genau jene Weltbürgeridee dieser Tage mit Macht nach vorn: Ob in Rio oder Istanbul – rund um den Globus formieren sich neue Bürgerrechtsbewegungen, und die Proteste gehen längst über sympathisch verzottelte Occupy-Camps hinaus. Fast immer ist es die prekarisierte Mittelschicht, und fast immer geht es um die ganz großen, die „System“-Fragen. Aus der Renaissance stammt die Utopie des „Kosmopolitismus“, die Sozialisten träumten vom „Internationalismus“. Vielleicht wird ausgerechnet jetzt, im doofen Kapitalismus, mithilfe der noch dooferen Instrumente Twitter und Facebook, doch noch was daraus?
Es gibt sogar eine Initiative, die streitet für ein demokratisches „Weltbürgerparlament“ auf UNO-Ebene: die internationale UNPA-Kampagne. 2007 hat sie sich formiert, im Oktober wird sie einen neuen Anlauf nehmen, mit ihrer fünften Sitzung, diesmal in Brüssel, und einer weltweiten Aktionswoche.
860 Abgeordnete aus über 150 Ländern und gut 360 NGOs haben den „Aufruf für die Einrichtung einer Parlamentarischen Versammlung bei den UN“ schon unterzeichnet. Das klingt immer noch ziemlich utopisch, zugegeben. Aber es ist ein weiterer, durchaus gut organisierter Ansatz zu einer Globalisierung von unten – ein Gegenentwurf zu den überall neu erblühenden nationalistischen Bewegungen.
Selbst gebastelter Weltbürgerpass
Albert Einstein und Jean-Paul Sartre zählen zu den Vorkämpfern der Idee. Sie trugen einen „Weltbürgerpass“, ein symbolisches Ausweispapier, das man heute im Internet bestellen kann, für 45 bis 100 US-Dollar, je nach Laufzeit.
Ausgedacht hat sich das Ganze der US-Politaktivist Garry Davis, und zwar vor 65 Jahren: Im Sommer 1948, Europa liegt in Trümmern, platzt Davis, damals 26, in Paris in eine UN-Sitzung und stellt sich als erster offizieller „Weltbürger“ vor. Seinen US-Pass hat er abgegeben, stattdessen wedelt er mit seinem selbst gebastelten Ausweis herum. Als Bomberpilot hat er in Europa Tausende Zivilisten getötet und wurde selbst von den Nazis abgeschossen. Die neu gegründete UNO soll solche Gräuel künftig verhindern – und Davis nimmt die Idee einfach wörtlich: Jawohl, eine demokratische Weltregierung für alle Bürger der Erde müsse her, und von ihm aus könne es gleich damit losgehen.
Rund zwei Millionen „Weltbürgerpässe“ soll Davis seither in Umlauf gebracht haben, über die von ihm gegründete Global Citizens Initiative. Auch der Dalai Lama und Julian Assange besitzen einen solchen „World Passport“ – ehrenhalber, wie Davis erklärte.
Kürzlich, am 24. Juli, ist er im Alter von 92 Jahren gestorben. Als Humanist begriff er sich selbst. Tatsächlich ist er ein politischer Visionär, der immer wieder auf die kriegerische Kraft der Ökonomie hinwies: In den UN-Gremien würden wieder nur „Partikularinteressen“ abgeglichen, sagte er 1948. Nötig sei aber der Schutz jedes Einzelnen, egal wo er oder sie lebe und vor allem unabhängig vom „scharfen ökonomischen Wettbewerb“, der zwischen den Nationalstaaten weitertobe.
Weltbürger oder Weltmärkte?
„Finanzkrise“ oder „Bankennot“ heißen heute die Schlachtfelder. Kriegstreiber sind mächtige Konglomerate, die von anonymen „Shareholdern“ beherrscht, von bangen Regierungen umschleimt werden und mit „Standortvorteilen“ nur so um sich ballern.
Das führt etwa dazu, dass diejenigen, die Smartphones oder süße T-Shirts herstellen, mitunter ganz hässlich verbrennen in ihren 16-Stunden-Schichten. Napalm wird da keines geworfen. Es genügt, dass man irgendwo weiter westlich schicke Sachen günstig einkaufen will. Die Bedingungen werden von oben nach unten durchdiktiert – grenzüberschreitend und so unverschämt, dass längst auch den Wohlstandszivilisten mulmig wird.
Es sind ja nicht nur die in Grund und Boden austerisierten Griechen und die so gut wie abgehängten Spanier, sondern auch die Schweizer, Israelis und Deutschen, die – hoppla! – ihre Mieten kaum noch bezahlen können, die ausgequetschten Mittelschichten der „Arabellion“ und die vielen Amerikaner, die sich als „99 Prozent“ begreifen.
Ihnen wie auch den „ehrgeizigen Chinesen“ und den brennenden Bangladeschern wird letztlich das Gleiche erzählt: dass der „Druck der internationalen Märkte“ schuld sei an ihren Existenzsorgen. Die Frage ist, wie lange die Menschen sich auf diese Art noch gegeneinander ausspielen lassen wollen.
Ein „Weltmann“ zu sein bedeute, „die Verhältnisse zu anderen Menschen und wie’s im menschlichen Leben zugeht“ zu kennen, schrieb Immanuel Kant. Wie’s im Leben der „anderen“ zugeht, wissen wir längst; auch dass eine gewaltige neue Wanderungsbewegung eingesetzt hat, getrieben vom ökonomischen Überlebenskampf. Zu den derzeit am schnellsten aufstrebenden Städten mit den meisten Zuwanderern zählt nicht Berlin – sondern Lagos, die Hauptstadt Nigerias, die Heimat des global gesonnenen Herrn Taofik und, wer weiß, vielleicht in Zukunft der Sehnsuchtsort europäischer Erwerbsloser.
Der „Mann von Welt“, das war einmal der weiße Patriarch, der in Hinterzimmern diskrete Aktenkofferdeals tätigte und seine Einzelinteressen als das Interesse der Vielen verkaufte. Es ist an der Zeit, dass er seinen Platz für den „Weltbürger“ räumt. Und der „Weltbürger“ wird nicht unbedingt eine Hautfarbe haben, die an faden Streichkäse erinnert. Der „Weltbürger“ wird ganz selbstverständlich auch eine Frau sein. Garry Davis war vielleicht ein bisschen zu früh dran mit seiner Vision – kein Grund, den Strang jetzt nicht wiederaufzunehmen.
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