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Debatte GipfelprotesteVon den Schweden lernen

Kommentar von Petter Larsson

Nicht nur bei G20: Auch beim EU-Gipfel in Göteborg 2001 gab es Krawalle. Es folgte eine ernsthafte Aufarbeitung. Ob das auch in Hamburg möglich ist?

Sieht nach Hamburg aus: Göteborg 2001 Foto: ap

N achdem sich der Rauch über Hamburg verzogen hat, wird nun gestritten, was dort eigentlich passiert ist. Das ­medial dominierende Narrativ geht davon aus, dass hoch gefährliche ­Autonome von einer heldenhaften Polizei bekämpft worden seien. Dagegen steht das Bild, dass die Polizei mit übergroßer Härte vorgegangen sei und die Krawalle erst produziert habe.

Aufklärung ist also nötig. Bewegungsforscher Dieter Rucht hat gefordert, dass eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt wird. Seinem Kollegen Peter Ullrich schwebt ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss oder eine Art Wahrheitskommission vor. Die schwedischen Erfahrungen nach den Krawallen in Göteborg 2001 zeigen, dass derartige Kommissionen hilfreich sein können – wenn man ihren Auftrag richtig gestaltet.

Am 15. Juni 2001 brachen auf der Flaniermeile Avenyn in Göteborg die gefährlichsten politischen Unruhen aus, die Schweden seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat.

Die Polizei hatte versucht, eine Demonstration aufzulösen, die sich dem EU-Gipfel nähern wollte, der ein paar hundert Meter entfernt tagte. 150 bis 200 Personen zündeten daraufhin Barrikaden an, bewarfen die Polizei mit Steinen und zerstörten Schaufenster. Diese Gewalt entlud sich auch, weil die Polizei einige Tage zuvor ohne erkennbaren Anlass mehrere hundert friedliche Demonstranten in einer Schule eingesperrt hatte.

Die spektakulären Krawallbilder von der Avenyn führten zur weiteren Eskalation: Später am Abend schoss die Polizei mit scharfer Munition auf Demonstranten, was in Schweden noch nie vorgekommen war, und verletzte einen jungen Steinewerfer schwer. Zudem wurden Hunderte Demonstranten von der Polizei zusammengeschlagen, andere sexistisch und rassistisch beleidigt.

Was folgte waren Skepsis und Misstrauen

Anschließend war das gegenseitige Misstrauen abgrundtief. Politiker, Medien und Polizei behaupteten beharrlich, dass schwarz gekleidete, gewaltbereite Hooligans Göteborg „vergewaltigt“ hätten, wie es damals hieß. Doch dieses Bild stimmte nicht mit den Erfahrungen der Augenzeugen überein, die die Polizeiaktionen auf den Straßen von Göteborg miterlebt hatten.

Der Autor...

...lebt in Malmö und ist politischer ­Redakteur der Wochenzeitung Efter Arbetet, zuweilen schreibt er auch für die Tageszeitung Aftonbladet.

Diese Kluft zwischen offizieller Version und persönlichen Erfahrungen war im wahrsten Sinne des Wortes ein Trauma, das eine ernsthafte Aufarbeitung verlangte. Dies gelang vor allem einer öffentlichen Untersuchungkommission, die knapp zwei Monate nach den Krawallen eingesetzt wurde. Dieses sogenannte Göteborgkomitee wurde vom sozialdemokratischen Ex-Premier Ingvar Carlsson und vom Ex-Vorsitzenden der Konservativen Ulf Adelsohn geleitet. Ansonsten bestand die Gruppe aus Polizeistrategen sowie Reichtagsabgeordneten.

Genau deswegen war ich auch skeptisch, wie viele Linke. Eine Polizei-und-Politiker-Kommission sollte Polizei und Politik untersuchen. Was sollte dabei anderes herauskommen als ein geschönter Bericht? Das Gegenargument lautete natürlich, dass die Ergebnisse einer Kommission, die von höchst angesehenen Politikern geleitet wird, mit einer breiten Akzeptanz in der Gesellschaft rechnen kann.

Wenn es brennt, ist das das Symptom einer schweren Krise

Der offizielle Auftrag war, den Polizeieinsatz zu analysieren, um ähnliche Situationen in Zukunft besser handhaben zu können. Aber die Kommission war frei, sich auch mit anderen Aspekten zu befassen. Dies erwies sich als entscheidend. Denn das Komitee begnügte sich nicht damit, nur Fragen zur Polizeitaktik zu erörtern. Die Kommission gelangte nämlich zu ähnlichen Erkenntnissen wie die Globalisierungskritiker: Die Macht zwischen Arbeit und Kapital sowie zwischen Nationalstaaten und transnationalen Unternehmen habe sich verschoben.

Sieht auch nach Hamburg aus: Polizisten und Demonstranten in Göteborg 2001 Foto: ap

Daraus folgte für das Komitee, dass die Parteien allein dieses demokratische Vakuum nicht mehr füllen können und dass neue Formen des Dialogs zwischen Politik und kritischen Bewegungen entstehen müssen. Die Botschaft war: Wenn es auf der Avenyn brennt, dann ist dies Symptom einer schweren demokratischen Krise.

Für das Komitee war es daher selbstverständlich, nicht nur Polizisten, Politiker und Journalisten zu befragen, sondern auch die Globalisierungskritiker.

Die verschiedenen Versionen näherten sich an

Der 800 Seiten starke Abschluss­bericht enthielt unter anderem den Vorschlag, dass auf Demonstrationen ein Maskierungsverbot herrschen solle. Wichtiger war jedoch, dass eine neue Polizeitaktik nicht nur diskutiert, sondern in den folgenden Jahren auch angewendet wurde: Die Polizei solle sich nicht provozieren lassen, immer den Dialog suchen, auf Deeskalation setzen und sich im Hintergrund halten.

Das Komitee kritisierte den Polizeieinsatz in Göteborg gnadenlos. Schlecht ausgerüstete und unzureichend vorbereitete Einsatzkräfte hätten die Lage falsch eingeschätzt. Zwar gab es anfangs durchaus Dialogbereitschaft mit den Demonstranten, doch nachdem die ersten Kontaktversuche scheiterten, fehlte ein Reserveplan. Stattdessen entschied sich die Polizeiführung dann für ein überhastetes, destruktives und in einigen Fällen auch ungesetzliches Vorgehen, das zur weiteren Eskalation beitrug.

Das Komitee kritisierte den Polizeieinsatz, widerlegte aber auch linke Verschwörungstheorien

Gleichzeitig widerlegte das Komitee aber auch die Verschwörungstheorien, die unter den Aktivisten kursierten. Dazu gehörten unter anderem das Gerücht, dass die Polizeiführung insgeheim von Anfang an auf Eskalation gesetzt hätte oder dass es der amerikanische Geheimdienst gewesen sei, der die schwedischen Einsatzkräfte gesteuert hätte.

Der Kommission gelang es damit, dass sich die verschiedenen Versionen annäherten und eine offizielle Darstellung entstand, die alle Beteiligten weitgehend akzeptieren konnten. Dies ließ neues Vertrauen zwischen den Globalisierungskritikern und dem Staat entstehen.

Es bleibt abzuwarten, ob Ähnliches in Hamburg möglich ist. Aber zwei Erkenntnisse lassen sich aus dem schwedischen Beispiel ableiten: Eine Untersuchungskommission benötigt ein freies Mandat, und man müsste auch die Hamburger Demonstranten einbeziehen.

Übersetzung aus dem Schwedischen: Ulrike Herrmann

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11 Kommentare

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  • Bei diesen ungleichen und prekären Verhältnissen in Deutschland mit Millionenfacher Verarmung, Elend und Armut per Gesetz, ist es ein Wunder, dass nicht Millionen vor dem Kanzleramt protestieren. Hier sind der Mainstream Media, hauptsächlich und ursächlich verantwortlich. Würden diese Herrschaften ihren Auftrag als 4. Gewalt im Staat gerecht, wäre dies schon längst der Fall gewesen. Sobald es in Deutschland um Gerechtigkeit geht, mutieren regelmäßig Medien, von Wachhunden zu Kampfhunden in diesem Land.

     

    Damit endlich wieder Politik für die VIELEN NICHT NUR FÜR DIE WENIGEN GEMACHT WIRD.

  • Es wurde doch bereits mehrfach ein Untersuchungsausschuß zum G20-Gipfel gefordert. Der rot-grüne Senat denkt bislang nicht im Traum daran, weil er sich sofort auf „Heldensaga“ und „Sündenbock: Rote Flora“ festgelegt hatte.

     

    Die Staatsanwaltschaft ist da schon etwas weiter und hat heute ein Ermittlungsverfahren gegen die Polizei eingeleitet. Auslösender Anlaß: Ein Bus mit 40 Demonstranten der Jugendorganisation „Die Falken“, in der schon Aussenminister Sigmar Gabriel aktiv war, wurde auf der Anreise gestoppt und geräumt. Die Insassen mussten sich ausziehen, wurden mit Kabelbindern gefesselt und mussten so auf dem Boden ausharren, bis sich das Ganze dann irgendwann als „Versehen“ (falsche Datei angeklickt?) entpuppte.

  • "Diese Gewalt entlud sich auch, weil die Polizei einige Tage zuvor ohne erkennbaren Anlass mehrere hundert friedliche Demonstranten in einer Schule eingesperrt hatte."

     

    Dieses Argument ist absolut lächerlich. Welchen krassen Doppelstandard muss man haben, wenn sowas als akzeptables Begründung für Gewalt angeführt wird?

     

    "Gleichzeitig widerlegte das Komitee aber auch die Verschwörungstheorien, die unter den Aktivisten kursierten."

     

    Davon gibt es hier auch genügend. Am beliebtesten ist die "Die Eskalation war gewollt, um die Linke zu diskreditieren" oder "Das waren vermummte Polizisten, welche die Eskalation ausgelöst haben!". Ist natürlich beides absoluter Schmarn. Die Linke ist in der gesamten westlichen Welt seit über einer Dekade auf dem absteigenden Ast. Da ist kein Nachhelfen seitens der Polizei notwendig.

    • @disenchanted:

      Das auch noch heute 70 Jahre nach den Erfahrungen, in Teilen der Gesellschaft in Deutschland eine Obrigkeitshörigkeit vorhanden ist, erzeugt bei mir Brechreiz. Hier zeigt es sich wieder, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit kann man nicht verordnen.

      Was Sie hier verächtlich als "Schmarrn" abtun, hat es nicht nur in Hamburg sondern schon des öfteren in Deutschland und anderswo in Europa gegeben. Schon vergessen Genua 2001 oder Rostock Heiligendamm, wo die Polizeiführung öffentlich eingestehen musste, nachdem erwiesen werden konnte, dass es solche bezahlten Provokateure gegeben hat. Was macht Sie so sicher, dass es in Hamburg anders gewesen sein soll? Im Übrigen in einem Informationskrieg stirbt die Wahrheit zu erst. Wäre dem nicht so, gebe es keine illegale Kriege mit Millionen Getöteten auf Grund von westlichen Lügen. Wie war das noch mit Massenvernichtungswaffen im Irak? Bis heute keine gefunden? Wie war es mit dem sog. Hufeisenplan im Kosovo, den es auch nie gab, in dessen Folge sich auch Deutschland illegal an die Bombardierung beteiligt hat usw. Aber solange es so ein ausgeprägtes Obrigkeitsdenken oder muss man es schon fast pathologisch nennen, wenn trotz deutscher Geschichte, noch immer nach Oben gebuckelt und nach Unten getreten wird? Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, kann man nicht verordnen, wie man auch noch nach 70 Jahren danach immer wieder feststellen muss. "Eine Philosophie von Viehzüchtern, angewandt am Menschen."

    • @disenchanted:

      In dem Text steht doch nicht, dass das Einsperren der Demonstranten einige Tage zuvor eine akzeptable Begründung für die Gewalt sei, sondern es wird nur impliziert, dass deshalb eine grundlegende Missstimmung der Demonstranten gegenüber der Polizei geherrscht haben könne und ggf. einige Teilnehmenden deshalb gewaltbereit waren. Mit keinem Satz wird gesagt, dass der Gewaltausbruch in Ordnung oder akzeptabel ist. Oder, dass es für jedweden Gewaltausbruch akzeptable Begründungen gäbe.

  • GEWALT IST BÖSE...

    strafe. punkt. ende des diskurses. das ist das vorgegebene narrativ der politik, der polizei, der "qualitätsmedien". "gewalt ist ein mittel sozialer praxis" - welzer hat dazu alles gesagt, was zu sagen ist: https://daserste.ndr.de/panorama/Welzer-Gewalt-ist-ein-Mittel-sozialer-Praxis,welzer114.html.

    die "gier nach spektakel" war allenthalben hör- und erfahrbar: die politik - merkel/scholz - gierte nach glanz und gloria, die innenminister - de misère, grote - gierten nach "null toleranz" und "8.000 gewaltbereiten chaoten", die polizei - dudde - gierte nach einem "wüsten wochenende" und eskaliert verbal die "gier nach gewalt" mit hilfe eines vermummten "schwarzen blocks", der - mit der aufschrift "polizei" leicht erkennbar bürger durch strassen und viertel hetzt. und ein teil der "chaoten" nimmt das angebot an physischen gewaltexzessen dankbar an.

    wenn soviel hilflosigkeit im umgang mit gewalt als teil der gesellschaftlichen auseinandersetzung sichtbar wird, ist es an der zeit, die berichterstattung der taz über die seitenaspekte des g20 und der gewalt zu loben. sie war eine der wenigen stimmen, die es vermochten den gesellschaftlichen konflikt um die globale frage "wie wollen wir leben" zu erfassen und zu reportieren. die "strukturelle gewalt" des staates gegen seinen souverän "das volk" zu hinterfragen, werden die oligarchen der politik und der wirtschaft als interessenverstoss nicht zulassen und zu verhindern versuchen. vielleicht ein akkord der ngo's, sich dieses gesellschaftlichent temas in form eines tribunals anzunehmen, würde dem volk wieder jene "staatsgewalt" zurückgeben, die ihm in hamburg genommen worden ist

  • "Der 800 Seiten starke Abschlussbericht enthielt unter anderem den Vorschlag, dass auf Demonstrationen ein Maskierungsverbot herrschen solle." Liebe taz-Redaktion, soll dies ein Witz sein? Wir brauchen doch für den G20-Gipfel nicht ernsthaft eine Aufarbeitung, die u.a. zu diesem Ergebnis kommt? Ein Maskierungsverbot gilt bereits. Dies wurde von den gewaltbereiten Demonstrationsteilnehmern nicht beachtet. Wie sieht in diesem Fall eine Deeskalationsstrategie aus?

    • @casio:

      Ohne sich jetzt genau darüber schlau gemacht zu haben vermute ich mal stark dass es zum damaligen Zeitpunkt in Schweden ein entsprechendes Verbot eben nicht gab? Und es aus dem Grund angebracht ist?

  • Zitat: Der 800 Seiten starke Abschlussbericht enthielt unter anderem den Vorschlag, dass auf Demonstrationen ein Maskierungsverbot herrschen solle.

     

    Nein, sowas aber auch......