Debatte Gemeinschaftsschule: Pädagogik für das 21. Jahrhundert
In NRW wurde sie vorerst gestoppt, in BaWü darf sie nun kommen. Doch die Gemeinschaftsschule wird von CDU-Dinosauriern torpediert - und Erfahrungswerte fehlen.
D ie neue Stuttgarter Regierung hat Bildung als ihr Kernstück herausgestellt: In Baden-Württemberg soll eine andere Schule entstehen. Grün-Rot will sogenannte Gemeinschaftsschulen möglich machen, das sind Schulen, in denen alle Kinder bis zur zehnten Klasse zusammen lernen können. Und in denen auch anders gelernt wird: individuell nämlich. Die neuen Regierer machen zugleich deutlich, dass die neuen Schulen kein Top-down-Projekt sind: Gemeinschaftsschulen werden nur da entstehen, wo die Gemeinden und Schulträger das wollen.
Das ist ein klares Bekenntnis von Grün-Rot, die tiefe deutsche Schul- und Demografiekrise endlich ernst zu nehmen. Aber eine Bildungsrevolution ist es noch nicht.
Dennoch spuckten die Agenturen sogleich Meldungen wie diese aus: "Die Einführung der Einheitsschule ist ein Angriff auf das Gymnasium und sie verwässert anerkannte Bildungsabschlüsse." So kommentierte der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle die grün-rote Schulevolution.
Christian Füller ist Bildungsredakteur der taz.
Die Ständeschule der Spaenles
Spaenle ist Sprecher der unionsgeführten Länder. Er gehört zu den Dinosauriern unter den Kultusministern: relativ sehr kleiner Kopf im Verhältnis zum ohrenbetäubenden Lärm, den sie ständig erzeugen. Sie sind konzeptionell stehen geblieben bei der dreigliedrigen Ständeschule, die man schwer in das 21. Jahrhundert hineinargumentieren kann. Man fragt sich immer, was Regierungschefs der Union motiviert, Figuren wie Spaenle, oder den Ex-Offizier Bernd Althusmann (Niedersachsen) in ihrem Kabinett für die Wissensgesellschaft zuständig zu erklären. Allein die Benutzung des Terminus "Einheitsschule"zeigt, wo diese Leute stehen: Es ist ein Kampfbegriff aus den 1860er Jahren, als die Lobby des humanistischen Gymnasiums gegen die Ausweitung der Abiturquote auf mehr als ein Prozent polemisierte. Noch Fragen?
Baden-Württemberg wird also das erste der wichtigen fünf großen Bundesländer - NRW, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen - sein, das die Gemeinschaftsschule im Gesetz verankert. Bislang ist die Gemeinschaftsschule ja nur in Schleswig-Holstein und Berlin zuhause, manches andere kleine Land (und einige Schulträger) kokettieren mit ihr. Aber drei Viertel der deutschen Schüler, die in den Großen Fünf zuhause sind, wurden bislang in die alte gegliederte Schule gezwungen. Mit anderen Worten: Jetzt beginnt die Schulreform erst.
Zu Konsumenten degradiert
Die Vorteile der Gemeinschaftsschule für ein Land wie Baden-Württemberg liegen auf der Hand. Sie vermag es, erstens, bei sinkenden Schülerzahlen die Schulen auch in kleinen Gemeinden zu halten. Sie kann so das dramatische Sterben hunderter Schulen verhindern. Dieses Sterben hat weit reichende strukturpolitische Folgen: Geht die Schule, stirbt das Dorf. Die Gemeinschaftsschule bedeutet für ein Land des Mittelstandes wie Baden-Württemberg, dass es seinen Gemeinden - endlich! - ein strukturpolitisches Pfund in die Hand gibt: Sie können wieder Ingenieure für das technologieorientierte Handwerk vor Ort anwerben, weil sie nicht nur eine weiterführende Schule bieten, sondern obendrein das Abitur.
Die Gemeinschaftsschule bringt, zweitens, einen pädagogischen Paradigmenwechsel: Weg vom Konsumieren hin zum Agieren. Unterrichtet man nämlich sehr verschiedene Schüler-Talente prinzipiell gemeinsam, dann muss man das Lernen ganz anders arrangieren als in der alten Belehrungsanstalt. Es fällt der eintönige und überkommene Fachunterricht in kleinen Zeitfenstern weg, der meistens frontal abgehalten wurde. Er ist es, der Schüler zu Konsumenten degradiert. An seine Stelle treten individuell-kollektive Lernformen, in denen die Schüler zu Produzenten werden: Sie bestimmen in Lernbüros ihr Tempo selbst, sie erarbeiten sich Sinn und Gegenstände vieler Wissensgebiete eigenständig, sie forschen idealerweise in großen fachübergreifenden Projekten zusammen mit anderen Schülern.
Für manchen mag sich das wie hohler pädagogischer Neusprech anhören, in Wahrheit steckt darin die Lern-Zukunft der postindustriellen Informationsgesellschaft. Weil die Schüler sich in eigenaktiven Lernformaten neue Aufgaben selbständig suchen, sie lösen wollen und dabei kooperieren und präsentieren müssen, machen sie das, was der US-amerikanische Autor Tony Wagner 21st-Century-Skills nennt: Problemlösungskompetenz, die Fähigkeit zur Kooperation, unternehmerisches Denken, Kreativität. Das sind Kompetenzen, die der Harvard-Professor nicht etwa aus der Arbeit von Schulen extrahiert hat, sondern in Interviews mit Personalmanagern der Industrie identifizierte. An wenigen Orten in Deutschland werden sie so schmerzlich vermisst wie im Boomland Baden-Württemberg.
Metzger und Analphabeten
Nicht ganz zufällig stehen alle diese Kompetenzen ja auch im modernsten deutschen Post-Pisa-Papier. Verabschiedet hat es der Baden-Württembergische Handwerkskammertag, der wahrlich kein Hort hektischer gesellschaftlicher Modernisierung ist. Dass der konservativste Wirtschaftsverband es getan hat, ist Ausdruck der Lage der Nation am Standort in Baden-Württemberg: Die Metzger, Schreiner und Mittelständler bekommen nämlich dort, wo die Global Player Porsche, Bosch, Daimler etc. die besten Absolventen aus den Schulen staubsaugen, nur mehr Schulabbrecher, Risikoschüler und funktionale Analphabeten als Lehrlinge. Die scheidende Smartphone-Kultusministerin Marion Schick hatte dieses Problem noch geleugnet: Sie machte eine Politik mit, die auf bloße Umbenennung der Hauptschulen in Werk-Realschulen setzte. Diese Missgeburt hat mit zur Abwahl der Regierung beigetragen.
Die Gemeinschaftsschule ist das richtige Angebot. Aber sie wird kein Selbstläufer werden. Das Problem ist, dass sie noch kaum jemand kennt und dass viele Lehrer sie noch nicht können. Die Zurückweisung dieser Schulform lag ja nicht allein an der Sturheit modernisierungsresistenter Minister. Das alte Lernen à la Feuerzangenbowle steckt noch tief in den Köpfen. Es gut, dass das technologisch am weitesten entwickelte deutsche Land dies nun ändern will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles