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Debatte "Fälle" wie KunderaDer Fluch der späten Geburt

Kommentar von Adam Krzemiñski

Der "Fall" Milan Kundera zeigt: Für die Bewertung solcher Biografien gibt es kein Maß. Hinter der Abrechnung mit berühmten Autoren steht oftmals das Motiv des Vatermords.

Tontaubenschießen: Diesen Begriff prägte Günter Grass einst für die mediale Jagd auf berühmte Autoren, als er sich über den unerhört inszenierten Verriss seines Wenderomans "Das weite Feld" empörte. Er passt aber auf viele Fälle - auf Kundera, Wolf, Kapuzcinski … Schützenkönig wird, wer die am höchsten fliegenden Alphatiere abschießt - Nobelpreisträger, verdächtigte internationale Berühmtheiten oder nationale Autoritäten. Nun mag man sagen, wer sich in die Öffentlichkeit begibt, der kann auch von ihr hingerichtet, verhöhnt oder schmählich ignoriert werden. Doch das heutige Wühlen in den Biografien berühmter Autoren gleicht mehr einem Wettlauf von Spürhunden.

Die Ideologie ist ehern: Die Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, die Wahrheit über das reale Leben berühmter Autoren zu kennen, über ihre Winkelzüge, Frontwechsel und in den Schränken versteckten Leichen. Die Wirklichkeit sieht grauer aus. Kurz nach Ryszard Kapuscinskis Tod brachte die polnische Ausgabe von Newsweek ein Titelbild, auf dem der Reporter des Jahrhunderts in Jeans und Sportjacke in der Badewanne saß. Die Balkenlettern schrien: DIE AKTE EINES SCHRIFTSTELLERS. Darunter in kleinerer Schrift: Konnte Ryszard Kapuscinski die Zusammenarbeit mit der volkspolnischen Auslandsaufklärung ablehnen? Und schließlich unten, ganz klein: "Aus dem Bericht des Funktionärs: Liefert keine wesentlichen Nachrichten, die für uns von Interesse wären".

Der redaktionelle Text entsprach allen Erfordernissen der Denunziation: Es wurden Decknamen genannt sowie Verwicklungen mit bekannten Personen angedeutet. Für einen Anschein von Redlichkeit sorgte ein Interview mit einem älteren Journalisten, der die Bedingungen gut kannte, unter denen Auslandskorrespondenten wie Ryszard Kapuscinski damals arbeiteten. Doch nicht das Argument, sondern die Inszenierung der Story wirkte: Seht an, er auch!

Das komplizierte Spiel, das der Reporter mit der Stasi trieb, um eben nicht mitzumachen und sich dennoch nicht die Reisemöglichkeiten zu verbauen, haben Beata Nowacka und Zygmunt Zietek in ihrer soeben veröffentlichten Biografie Kapuscinskis dargestellt. Dieser hatte bei seinem Sichherauswinden auch die Rückendeckung seiner Chefredakteure, die ihn eben als einen wildernden Reporter und nicht als ferngesteuerten Agenten haben wollten.

Die europäischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts stehen seit langem am Pranger. Wegen ihrer Verstrickung in den Faschismus, Nazismus oder Kommunismus. Wegen ihrer Kriegsbegeisterung und Mordpropaganda. Wegen der Beteiligung an üblen Kampagnen gegen politische Gegner. Und eben auch wegen ihrer Zusammenarbeit mit den Sonderdiensten totalitärer Staaten. Die Liste ist lang. Frei nach Jaspers, schuldig waren sie fast alle - wenn nicht im kriminellen oder politischen, dann doch im moralischen oder metaphysischen Sinne, weil nicht imstande, das menschliche Inferno dieses totalitären Jahrhunderts zu verhindern.

Sie stehen aber nicht nur deshalb am Pranger, weil sie vor Jahrzehnten Jungnazis oder Jungkommunisten waren, sondern weil sie sich von ihrer Jugendsünde entfremdeten und zu streitbaren Sozialdemokraten oder Liberalkonservativen wurden. Den einen ist ihre Verwandlung nicht radikal genug oder verdächtig, weil ein weltweit angesehener Autor - wie Günter Grass - eine beschämende Episode aus seinem Leben erst nach sechzig Jahren preisgab. Den anderen ist sie suspekt, weil er - wie Milan Kundera - die Glaubwürdigkeit ihn belastender Stasi-Vermerke verneint.

Auch wenn beide Fälle anders gelagert sind, bekamen beide Schriftsteller starke Rückendeckung. Günter Grass 2006 von den polnischen Danzigern, Milan Kundera jetzt von namhaften Schriftstellern, darunter vier Nobelpreisträgern. In den medialen Schaustücken dieser Art geht es zumeist weniger um biografische Fakten als um die Glaubwürdigkeit von Polizeiakten. In einer Strafsache aber würde es im "Fall" Kundera höchstens zu einem Indizienprozess reichen.

Das 20. Jahrhundert war eine Epoche totalitärer Ideologien und Staaten, die Einzelbiografien bis tief ins Private geprägt haben. Die Verstrickung war so engmaschig, dass nur sehr wenige eine unbefleckte Weste davontragen konnten. So hat jedes Land, das mit einem totalitären Regime - gleich ob einem faschistischen oder stalinistischen - in Berührung kam, seine eigene "hausgemachte Schande".

In Russland ist es der stalinistische Terror nach innen und außen, der von Millionen eifriger Mittäter und Mitläufer mitgetragen wurde und nie zu einem kollektiven - und ganz selten zu einem individuellen - Schuldbekenntnis führte. In Italien war es die Verzauberung der besten Intellektuellen durch Mussolini. In Frankreich die willige Kollaboration mit Vichy und Hitler, bis hin zum Debüt des späteren Stalin-Verehrers Sartre unter dem wohlwollenden Auge des nazideutschen Zensors.

In Deutschland war es die Verherrlichung des Krieges 1914, später des revolutionären Gemetzels - des roten wie des braunen - und die Akkommodation in zwei totalitären Systemen. In Polen die Selbstverleugnung der Intellektuellen durch die Zusammenarbeit mit den beiden Besatzern von 1939, den Sowjets in Lemberg oder Wilna und den Nazis in Warschau oder Krakau. Und nach dem Krieg - die Mitwirkung an der stalinistischen Geschichtslüge und der Sowjetisierung des Landes. Doch wenn man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten will, sollte man voreilige Urteile vermeiden - auch weil es in vielen Fällen nicht allein eine Geschichte von Schuld und Sühne, sondern auch von Buße ist. Denn viele, die anfänglich der totalitären Verheißung erlagen, erwachten früher oder später und trugen dazu bei, dass die niederen Dämonen überwältigt wurden.

Kein Leben lässt sich auf eine Apothekerwaage legen, lässt sich wiegen und messen wie ein Mineral. Wie soll man den Werdegang der "Renegaten" des Kommunismus, wie Arthur Koestler oder Ignazio Silone, Leszek Kolakowski oder eben Milan Kundera bewerten, die - wie Adam Wazyk über sich selbst sagte - "verrückt wurden" und siegestrunken das Gerüst des Kommunismus mit aufbauten, es dann aber als Reformer und Dissidenten niederreißen halfen? Man kann die geistige Situation der Zeit rekonstruieren, die psychischen, moralischen und politischen Bedingungen des Jahres 1933 oder 1950, als ein Zwanzig- oder Vierzigjähriger die existenzielle Entscheidung traf, zu den siegreichen Nazis oder Kommunisten zu stoßen, und nachverfolgen, wie sich seine Haltung wandelte.

Doch Lebenswege lassen sich nur interpretieren und nicht messen. Ein Nachweis der Parteimitgliedschaft reicht dazu ebenso wenig wie der der Zugehörigkeit zur Waffen-SS in den letzten Kriegswochen - zumal wenn man weiß, dass er zu der Zeit nicht mehr freiwillig war. Auch der Kontakt mit den Sonderdiensten - wie im Falle Kapuscinskis - ist ohne genaue Prüfung der Haltung des "Verstrickten", ob und wie er sich den Fängern entwand, irrelevant.

Aber in diesem medialen Tontaubenschießen steckt noch etwas. Siegmund Freud meinte, dass ein pubertierender Junge, um erwachsen werden zu können, mit seinem Vater abrechnen muss. Dieser Vatermord wird auch im kulturellen Leben permanent inszeniert. Die Jungen schließen sich in Gruppen und Freundeskreisen zusammen, um ihre Durchsetzungskraft zu bündeln, und rufen neue Kunstrichtungen aus, um sich von den "Alten" abzusetzen.

In der willkürlichen Postmoderne zerrinnen aber nicht nur ganzheitliche Versuchungen, sondern auch reale Biografien junger Menschen. Was ist schon ein Mobbing am Arbeitsplatz angesichts einer Denunziation beim NKWD oder der Gestapo? Wie mickrig ist die Beschämung wegen der eigenen Hoffnungen, die man in die Kaczynski-Brüder setzte, im Vergleich zum Verlust des Glaubens an den Kommunismus oder dem Schock eines Jungnazis, der 1945 vom Völkermord erfuhr? Das ist der Fluch unserer späten Geburt! So jammern in Polen manche Jungkonservative. Es gebricht uns an prägnanten Biografien. Uns fehlt eine Generationserfahrung und damit der Stoff für durchschlagende Werke. Vielleicht rührt daher der Drang, die Denkmäler der Alten umzustürzen. Weg mit diesen schwankenden Gestalten!

Und wenn einige von ihnen tatsächlich stürzen, dann bekommt man Platz auf den leeren Sockeln für eigene Kollegen. Aber mit welchen Titeln?

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1 Kommentar

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  • A
    anke

    Ich habe Freuds Ödipus-Theorie nie verstanden. Erst spät ist mir klar geworden, warum das so ist. Ich bin aufgewachsen zwischen machtlosen Vätern und Helden, die keine waren. Das Tontaubenschießen ergibt einfach keinen Sinn, wo keine Alphatauben fliegen. Für den, der keine Sockel zu erobern hat, besitzt die Frage nach dem Titel eines Denkmals keinerlei Relevanz.