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Debatte EuropaHolzschnitte und Blaupausen

Kommentar von Mathias Greffrath

Gleichheit, Demokratie, Gewaltenteilung, Migration: Man kann, ja man sollte sich Europa auch als echte Republik vorstellen.

Come together – aber wo und wie? Foto: dpa

I ch hatte ihn damals aus einer Zeitung ausgeschnitten, aber bei einem der Umzüge ging er verloren: der Holzschnitt aus der Nelkenrevolution von 1974.

Am linken Rand die portugiesische Kleinbauernfamilie, daneben die Phalanx europäischer Heroen: Platon neben Einstein, Chaplin neben Kant, Picasso neben Victor Hugo. Willkommen zurück, rufen sie und schütteln die Hände der barfüßigen Landleute, nach all den Jahrzehnten, in denen die europäischen Eliten den faschistischen Diktator Salazar geduldet hatten – der war ja schließlich ein Shareholder des „christlichen Abendlandes“ gewesen.

Das kleine, schwarzweiße Plakat stand mir wieder vor Augen, als ich Ulrike Guérots flammende Kampfschrift „Warum Europa eine Republik werden muss“ las.

Als hätte die Demokratietheorie sich noch nicht von der Volkssouveränität und Rousseau verabschiedet und das alteuropäische Erbe noch verpflichtende Kraft, wird da das Projekt einer Europäischen Republik aufgerufen. Man liest’s, und für einen Augenblick ist alle realistische Müdigkeit weggeblasen, ob so viel unverfrorenen Zutrauens zu Ideen.

Verknüpfte Traditionsfäden

Von Platon über Thomas Morus’500 Jahre altes „Utopia“ bis zu Immanuel Kant, John Maynard Keynes und Hannah Arendt verknüpft Guérot philosophische und historische Traditionsfäden, um ein kontinentales Gemeinwesen zu propagieren, das die Finanzen kontrolliert, die Ungleichheit der Vermögen und Einkommen mildert, die Grundversorgung der Bürger mit Verkehrsmitteln, Medizin und Bildung garantiert.

Besitz statt Eigentum; durch Technik gesicherter Zeitwohlstand, der zur Politik überhaupt erst befähigt – alte Ideen. Für deren Verwirklichung die Zeit reif sei, wie Guérot findet. Weil alle materiellen Voraussetzungen gegeben sind und weil Europa in schlechter Verfassung ist: Ein kapitalistischer Markt ohne gestaltenden Staat, eine Ungleichheitsmaschine mit einem Parlament ohne wirkliche Macht und dem Europäischen Rat als Machtzentrum, in dem nationale Egoismen und innenpolitische Interessen die Beschlüsse prägen.

Mathias Greffrath

lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über den zerstörerischen Turbofeudalismus aus Silicon Valley und was die Linke dagegensetzen kann: einen menschenfreundlichen Optimismus der Technik.

Aber die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Ungleichheit, Klimawandel, Arbeitslosigkeit, Migration – werden demokratisch nur zu bestehen sein in einem Europa der Gleichheit: mit gleichem Wahlrecht, Gewaltenteilung, gleichen Steuern, gleichen Sozialsystemen in allen Regionen. Der Weg in ein solches Europa aber bleibt versperrt, solange nicht die Bürger des Kontinents, sondern die nationalen Eliten an den politischen Hebeln sitzen.

Zulauf von den Liberalisierungsverlierern

Die Europäische Republik – ein schöner, radikaler Gedanke, nur: Es steht schlecht um das „historische Subjekt“, nach dem Guérot Ausschau hält. Die „Generation Erasmus“, gut ausgebildet und polyglott, reist, feiert und gründet Start-ups grenzüberschreitend, ist über TTIP informiert und sozial engagiert – aber denkt gar nicht daran, als Gegenelite die EU zu reformieren. „Wie der Teufel das Weihwasser meiden sie die Institutionen. Sie suchen nicht die Macht, sie sind die Kinder des Poststrukturalismus, der ihnen beigebracht hat, dass Macht diffus ist, Hierarchien autoritär und Institutionen träge. Sie zahlen einen hohen Preis dafür: Bei aller faszinierender Kreativität erreichen sie nicht die Steuerknüppel des Systems. Während sie Projekte machen, rocken Frauke Petry und Marine Le Pen die öffentlichen Plätze. […] Ein System aber, das den gebildeten Teil seiner Jugend nicht mehr anzieht, hat ausgedient.“

Spekulierend fallen einem merkwürdige Dinge ein, verspielte, aber auch gigantische

Auf der anderen Seite des Bildungsspektrums bekommen die Talmi-Konservativen und Protofaschisten ungebremsten Zulauf von den Liberalisierungsverlierern: historischen und politischen Analphabeten, die auf dem Lande oder in Vororten leben, unqualifiziert und von den Arbeitsmärkten ausgesperrt, und auf sich selbst, ihre Region, ihre Vorurteile und ihre Zukunftsangst zurückgeworfen sind. Einstweilen machen die alten Eliten immer weiter, unbeirrt von Krisen, Ungleichheit, demokratischem Bürgerzorn und dumpfer Kritik von rechts (auch die mit treffenden Argumenten).

Die Migration, dieses erst beginnende „Rendezvous mit der Globalisierung“, und der Brexit werden, so denkt Guérot, die Tendenzen zu einem Europa à la carte verstärken: mit mehr oder weniger Pressezensur, völkischem oder klerikalem Protofaschismus, mehr oder weniger Ökologie oder Klimapolitik – zusammengehalten durch einen oligopolistischen Markt und eine Militarisierung der Grenzen. Das einzige Projekt, von dem sich „Realisten“ zurzeit „mehr Europa“ versprechen.

Eine Europäische Republik, die nachhaltig wirtschaftet, ihren Wohlstand und ihre technologische Potenz, ihre ökologische Aufgeklärtheit in den Dienst einer kommenden Weltgesellschaft stellt: Einstweilen schwebt sie in der Gedankenluft – als „Entwurf in den Schubladen für den Moment, wo die Morosität das derzeitige europäische System zum Einsturz gebracht haben wird“.

Spätabendliche Spekulationen

Aber gerade weil für diese Europäische Republik zurzeit alle Voraussetzungen fehlen, spekuliert man nach der Lektüre der überaus gebildeten und unterhaltsamen Streitschrift am späteren Abend gern weiter: Wie denn eine europäische Öffentlichkeit wachsen könnte, die nicht nur für Intellektuelle und Idealisten anziehend wäre. Merkwürdige Dinge fallen einem da ein, verspielte wie eine Tour d’Europe: ein Radrennen von Spitzbergen bis Porto, von Riga bis Santiago de Compostela, mit einer Profiklasse und einer für alle europäischen Enthusiasten.

Oder gigantische wie ein Sozialdienst für alle jungen Europäer als letztes Schuljahr, abzuleisten in einem anderen Land, eine neue, obligatorische Stufe der Bildungskarriere zwischen Schule und Beruf: eine Europa ergreifende Revolutionierung des Bolognamodells. Junge Iren, die in Rumänien Biolandwirtschaft betreiben, Spanierinnen, die in Deutschland Schulen renovieren, Schottinnen, die süditalienischen Computeranalphabeten auf die Sprünge helfen, Holländer, die in Albanien Solardächer montieren – und die Enkel der portugiesischen Kleinbauern, die in Finnland alte Menschen betreuen.

Wäre das kein gutes Propädeutikum für die Europäische Republik – nach all den Jahrzehnten, in denen wir ein Europa der Shareholder geduldet haben?

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