piwik no script img

Debatte Das Leben der anderenDas Leben als Postwurfsendung

Niemand stellt mehr Fragen nach dem Leben der Anderen. Warum? Aus Angst vor dem Eingeständnis, dass man selbst gescheitert ist.

Zeiten, in denen man noch Fragen nach dem Leben des anderen stellte Foto: unsplash / itsportadelaide

Es waren Abende, nach denen meine Frau und ich wortlos Hand in Hand nach Hause gingen: als müssten wir uns einer Übereinstimmung versichern, ohne noch sagen zu können, was uns eigentlich am gerade Erlebten so irritiert hatte; Abende in Groß-und Kleinstädten, in Kneipen und in Biergärten, nach Besuchen in unseren Familien – die man sich bekanntlich nicht aussucht – wie bei Treffen mit Freunden und Bekannten.

Nach dem fünften oder sechsten Mal, wenn wir noch ein Glas tranken oder im Bad waren, wenn wir von unseren Büchern aufschauten, die wir im Bett lasen, war es dann schon fast ein Witz geworden, die Frage: „Hat dir heute Abend eigentlich irgendwer eine einzige Frage gestellt?“ Die Antwort war immer „Nein“ – , beziehungsweise diese so schreckliche wie nicht loszuwerdende Formulierung „Nicht wirklich“.

Denn was sollte ich etwa von der Frage eines Freundes meines Bruders halten, den ich dreißig Jahre nicht gesehen hatte und der fragend feststellte, dass ich schon noch in unserer gemeinsamen Heimatstadt leben würde, was ich leider nicht mit Ja beantworten konnte und was dann weitere Fragen seinerseits überflüssig machte und er sich so zügig wie möglich ans andere Ende des Tisches begab, um dort mit Gleichgesinnten das zu besprechen, was sie seit dreißig Jahren besprachen.

Wir leben von Antworten

Im Gegensatz zur großen Unlust zu fragen, ist die Unlust zuzuhören als Phänomen schon oft thematisiert worden. Vor zehn Jahren etwa hieß es in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, „die Theoretiker“ seien sich einig, dass das Zuhören ins Abseits gerate „in einer Gesellschaft, die immer selbstbezogener, schneller, effizienter ist, in der alle unter Druck arbeiten, lesen, essen, sprechen“.

Der Text verweist historisch solide auch auf das grundsätzliche Problem, sich über die jeweils aktuellen Sitten auszulassen: dass es nämlich immer schon jemand gegeben hat, der die Jugend oder das Alter, die Moderne oder die Reaktion, das Telegraphenkabel oder das Smartphone für unangenehme zeitgenössische Veränderungen verantwortlich gemacht hat. Halten wir es also erst mal persönlich.

Meine Frau und ich, wir sind Journalisten. Wir lieben es zu fragen, es ist unser Beruf. Wir stellen Fragen, weil wir von den Antworten leben, insbesondere von denen, die uns die Befragten eigentlich gar nicht haben geben wollen. Es war für mich durchaus eine Entdeckung, dass diese Herangehensweise auch im Privaten sehr viel mehr Befriedigung und Vergnügen beschert als das Abspulen von Inhalten, deren man sich ja eh schon bewusst ist – wer hätte die drei besten Anekdoten seines Lebens nicht schon mindestens zehnmal erzählt?

Völlig unvorbereitet kam diese Erkenntnis nicht: Ich bin in einer dialogischen Gesprächskultur des Frotzelns, des „Schmäh führens“ aufgewachsen, die vielleicht südlich ist. Bayern, Österreicher, Italiener führen jedenfalls stundenlange Gesprächswettbewerbe, wo es fast ausschließlich darauf ankommt, die schnelle, witzige, auch bösartige Erwiderung zu finden, die Pointe – ein sogenanntes Fremdwort.

Stunden des Schwatzens

Ich mag das immer noch sehr gerne, ich mag auch die großen Redenschwinger – solange sie klug sind und lustig und zart –, die trunkenen Stunden des Lachens und Schwatzens, wie sie der Dichter Konstantinos Kavavis einst am Mittelmeer gegen die wortkargen Barbaren verteidigte: „Schatten und Nacht ist das Schweigen; Tag das Wort.“

Aber ich habe auch erfahren, jene treudeutsch-protestantische Innigkeit wertzuschätzen, die sich alles sagt – soweit sie denn von Sympathie, von Freundschaft und gemeinsamen Erfahrungen gedeckt ist.

Doch darum geht es hier nicht. Es geht um heute. Es geht um die Unlust am Anderen, schlimmer, um die Unlust am Selbst. Denn zu der Beobachtung des Nichts-gefragt-Werdens gehört die Beobachtung des Nichts-von-sich-erzählen-Könnens.

So oft geschieht es mir, dass ich von Menschen etwas über ihre konkrete Tätigkeit, sei es als Lehrer oder Installateur oder Hobbygärtner, wissen will; eine Tätigkeit, der sie doch einen Großteil ihrer Lebenszeit widmen. Ich erwarte, finde ich, nicht viel, ich bin je nach Gegenüber gespannt auf einen nüchternen Bericht mit Zahlen und Fakten oder auf eine emotionale Schilderung.

Ich will wissen, was ich nicht weiß, und ich weiß es nicht, weil ich nicht die Erfahrungen mache, die die von mir Gefragten machen. Doch stattdessen erzählen mir die Lehrer von dem 600-Seiten-Künstlerroman, den sie „eigentlich“ schreiben, die Institution Schule haben sie längst abgehakt; und die Installateure ergehen sich, statt über ihr Handwerk und über die Bedingungen, unter denen sie es ausüben, zu sprechen, in nicht minder ermüdenden politisierenden Weltbetrachtungen (oder umgekehrt).

Nicht mal bei ihrem Garten kommen die Leute noch ins Schwärmen, sie sagen nicht, was sie anbauen oder was sie mit der neuen Heckenschere so alles vorhaben, sondern sie explodieren wie geschüttelte Sektflaschen über das Schnäppchen, das ihnen gelungen ist, wenn sie nicht gleich die Flüchtlingsfrage im Gemüsebeet entdecken.

Hervorgewürgtes Halbwissen

Wer keine Worte für das eigene Tun übrig hat, sagt aber damit trotzdem etwas: nämlich dass das eigene Leben gar kein Leben ist. Die Leute leben auf einem Friedhof von gescheiterten Ambitionen, von hervorgewürgtem Halbwissen und Postwurfsendungen. Und nachdem sie sich ausgekotzt haben, schweigen sie natürlich erschöpft vor sich hin und wollen von nichts mehr etwas wissen.

Dieses wortreiche Verstummen riecht dann entsprechend schlecht. Es riecht nach Angst, nach Misstrauen, nach Arroganz, nach Verachtung und nach Hass: die Angst, etwas Dummes zu sagen; das Misstrauen, dass der andere das, was gesagt wird, nur benutzt, um einen fertigzumachen; die Arroganz, dass das, was man sagt, gar keiner Gegenstimme bedarf (aber auch keine aushält); die Verachtung, dass, was der andere erzählt, ja nur die selbe Scheiße sein kann, die ich selber erzähle; und der Hass, dass der andere etwas sagen könnte, das bedrohlich ist, irrelevant, unbegreiflich, krank.

Das große Schweigen wie das große Schwadronieren sind die Ausdrucksformen einer Gesellschaft, die nichts miteinander zu besprechen hat und nichts voneinander wissen oder miteinander zu tun haben will: die gar keine Gesellschaft ist. Meine Frau und ich, wir sagen inzwischen Familienfeiern ab und gehen von Partys stumm betrunken Hand in Hand nach Hause.

Die Fragen stellen nur noch die Bücher, die Medien, die Serien – und die Kinder; doch so wiss- und gesprächsbegierig die auch noch sein mögen und so viel Mühe wir uns auch geben: Die guten und vor allem die optimistischen Antworten, die gehen uns langsam aus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Zitat: „Im Gegensatz zur großen Unlust zu fragen, ist die Unlust zuzuhören als Phänomen schon oft thematisiert worden.“

    Das sind, scheint mir, zwei Seiten derselben Medaille. Wer nachher doch nicht zuhören will, der sollte vorsichtshalber gar nicht erst anfangen zu fragen.

    Ich glaube nicht, dass die Süddeutsche Zeitung vor zehn Jahren recht hatte. Es ist nicht nur das Tempo, das die Leute unter „Druck“ setzt. Es ist die allgegenwärtige Fremdbestimmung. Das Interesse am anderen stirbt vor allem daran, dass fast alle Erwachsenen-Beziehungen zu einer Frage der Hackordnung gemacht werden.

    Die „Unlust am Anderen“, die aus einer „Unlust am Selbst“ zu erwachsen scheint, hat mit Entfremdung zu tun. Wenn ich nicht selber entscheiden darf, was ich zu tun oder zu lassen habe, interessiere ich mich irgendwann nicht mehr dafür. Ich kann dann nichts darüber aussagen. Nicht mal, wenn mich doch jemand was fragt.

    Dass alle „Hobbygärtner“ aus Liebe zu ihren Pflanzen gärtnern, glaube ich nicht. Die, die es doch tun, wissen jedenfalls viel zu erzählen von ihrem Garten. Und weil sie immer besser werden wollen als Pflanzenliebhaber, fragen sie auch.

    Wie viele Lehrer oder Installateure freiwillig arbeiten in ihrem Job, weiß ich natürlich nicht. Es können nicht all zu viele sein. Auch Ärzte, Politiker oder Verkäufer fragen erstaunlich wenig. Offenbar sehen sie alle sich gezwungen zu tun, wofür sie sich bezahlen lassen. Vom Arbeitsamt oder vom Geld beispielsweise. Von einer Berufung jedenfalls nicht.

    Persönlich gehalten nur dies: Ich bin gern Stadtplaner. Außer, wenn meine Erfahrungen und Überlegungen nicht gefragt sind. Weil es um eine „Chefsache“ geht, ein „Vorhabenträger“ sich nicht ins Konzept reden lassen will oder eine Bürgerinitiative „rote Linien“ aufgemalt hat. Dann höre auch ich auf zu fragen. Dann ist Stadtentwicklung schlicht nicht mehr mein Problem. Worauf soll ich auch stolz sein, wenn sie – wider Erwarten – doch funktioniert?

    • @mowgli:

      ;) anschließe mich

      Das zum Schluß hab ich aber nicht so ganz verstanden.



      “…mach dir nur einen Plan…ala B.B.*¿*

      • @Lowandorder:

        btw - & zisch mailtütenfrisch!;)

        “4yeo







        "mach dir nur einen Plan…ala B.B.*¿*"







        MOWGLI: "Persönlich gehalten nur dies: Ich bin gern Stadtplaner. "



        Mal Tochter fragen. Ich glaube, die ist das auch gern.







        Wer plant sollte aber mit Frust umgehen können,



        falls andere entscheiden - Was nicht schlecht sein muss.



        Dass bei den "Entscheidungen der anderen"



        oft Politik im Spiel ist... nun ja.“

        Ja so - in die Richtung!;)(

  • Sach ich doch - Wer mal in Marburg/Lahn studiert hat;)



    Kann nicht ganz doof geblieben sein.



    Danke&



    Das mit den Kiddies seh ich noch positiver.



    Ähnlich dem Goncourt-Preisträger (?) vor ein paar Jahren.



    Der eigentlich die Dankesrede nicht halten wollte.



    Weil es sich eh nur lohne - sich mit Kindern zu unterhalten!;)

    Moment. …Moment mal!;) Das hier zeigt doch - Wo der Hammer hängt! Gell.



    “Kinder-Demo in Hamburg „Am Sandkasten bitte Handyfasten“



    Dass Mama und Papa ständig aufs Smartphone starren, davon haben der sieben Jahre alte Emil und seine Mitstreiter genug. Auf St. Pauli gingen sie auf die Straße.“



    Newahr. Normal.

    unterm——



    www.taz.de/!5534079/ Liggers!



    Ha no. Nur die Spitze des Eisbergs! Woll.

    • @Lowandorder:

      Ona nie - mailtütenfrisch

      “Hab jetzt doch Suchmaschinen bemüht.







      "smartphonanieren" wurde gefunden. Allerdings überraschend selten.







      www.taz.de/!5529515/







      Gibts`s das Wort "phonanieren" eigentlich schon?

      • @Lowandorder:

        Bereits in den 1980er Jahren habe ich im Freundeskreis das Wort



        " Telefonanieren" gehört. Das bringt mich zu der Annahme, dass der im Artikel beschriebene Zustand der Kommunikation nicht neu ist.

        • @aujau:

          Schonn. Annalog;) Kann mich an Väter erinnern - die die Telefonschnüre so verlängert anlegten - daß (sorry nicht genderneutral:) - 's Töchterchen wenigstens ab&an - etwas “Frischluft im Garten“ teilhaftig werden konnte!;))



          Aber Hallo! Normal.