Debatte Das EU-Projekt: Abenteuer Europa
Die EU hat eine harte, letztlich aber erfolgreiche Woche hinter sich. Viele BürgerInnen jedoch bleiben auf Distanz. Noch immer dominieren die nationalen Egoismen.
E s ist die Woche des Aufatmens gewesen. In Berlin konnte Angela Merkel sich erleichtert zurücklehnen, nachdem ihr die Kanzlermehrheit bei der Abstimmung über den EU-Rettungsschirm auch die Koalition gerettet hat - vorerst. Die Finnen winkten den europäischen Hilfsfonds ebenfalls durchs Parlament.
In Straßburg entspannten sich die Gesichtszüge von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, nachdem die EU-Abgeordneten einer Verschärfung des Euro-Stabilitätspakts zugestimmt hatten, über die seit einem Jahr verhandelt worden war.
Und sogar die Europäische Kommission selbst, die sich in den vergangenen Monaten eher durch stetiges Nichtstun ausgezeichnet hatte, trug ihren Teil zur allgemeinen Aufbruchstimmung bei, indem sie ihren überfälligen Vorschlag für eine EU-weite Transaktionssteuer vorlegte.
Endlich mal etwas weggeschafft, mag sich da so mancher Politiker gedacht haben, als er am Freitag in den Feierabend ging. Endlich eine Atempause in den getriebenen Krisenzeiten.
ist Korrespondentin der taz in Brüssel.
Die Stimmung hat sich geändert in den vergangenen Tagen - zumindest in Brüssel. Die EU-Politiker schauen nicht mehr nur zu, was die Spekulanten mit dem Euro machen, sondern versuchen wenigstens das zu retten, was noch zu retten ist.
Den vielen Ankündigungen sind erste konkrete Taten gefolgt - wenn die auch nur ein Anfang sein können für eine groß angelegte Aufräumaktion. Und das positive Votum aus Berlin hat zusätzlichen Aufwind gegeben. Plötzlich darf wieder laut von Hoffnung gesprochen werden, davon, dass Griechenland, Portugal und Italien doch noch zu retten sein könnten.
Es darf wieder gehofft werden
José Manuel Barroso hat in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament davon gesprochen, dass die Europäer wieder stolz sein sollten, Europäer zu sein. Er wünsche sich ein Aufbäumen, einen Sprung nach vorn. Aber worauf können wir Europäer zurzeit eigentlich noch stolz sein?
Viel ist nicht übrig geblieben. Nicht nur die gemeinsame Währung hat in den vergangenen Krisenmonaten erheblichen Schaden genommen, sondern das gesamte Europäische Projekt: Der Gemeinschaftsgeist zwischen Berlin, Paris, Athen, Warschau und Helsinki ist verschwunden, hat einem neuen Nationalismus Platz gemacht.
Die Bürger haben das Vertrauen in das europäische Projekt verloren, und die Politiker sind ihrer Verantwortung nicht oder nur ungenügend nachgekommen. Der Eiertanz in Berlin ist ein Beispiel - aber es gibt noch viele andere:
Das Herzstück Freizügigkeit
Die Franzosen und die Dänen stellten mit der zeitweisen Einführung von Grenzkontrollen im Schengenraum die Freizügigkeit der EU-Bürger infrage. Dabei ist sie - neben dem Euro - das Herzstück des europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls.
Die Europäische Kommission legitimierte diesen Schritt im Nachhinein, und auch die anderen EU-Staaten haben ihn letztlich akzeptiert. Schließlich, so denken die Köpfe in den Hauptstädten, könnte man ja selbst einmal in eine ähnliche Situation geraten und wäre dann froh, wenn einem keiner reinredet von den Nachbarn.
Deutschland und fünf weitere EU-Staaten wollen das Europäische Lebensmittelhilfsprogramm abschaffen, obwohl es zurzeit rund 18 Millionen Menschen in der Gemeinschaft ernährt. Für die deutsche Bundesregierung gehört die Sozialpolitik nicht in den Kompetenzbereich der Union. Die Bedürftigen haben das Nachsehen.
Wo ist der Mehrwert der Union?
Deutschland blockiert seit Monaten die Verhandlungen über ein gemeinsames Asylsystem in der EU, obwohl das eigentlich bereits im kommenden Jahr eingeführt werden sollte. Die Deutschen wollen die Standards und Anerkennungsgründe nicht harmonisieren. Sie befürchten einen zu großen Zustrom von Flüchtlingen im eigenen Land.
Stattdessen lassen sie die Migranten im Mittelmeer ertrinken oder in überfüllten Auffanglagern auf Malta und in Griechenland vor sich hin vegetieren. Das nationale Interesse geht vor - vor europäischer Solidarität, vor dem Schutz von Menschenrechten, vor dem Respekt der geschlossenen Verträge.
Was bleibt von der Europäischen Union dann noch übrig? Die Gemeinschaft hat ihre Glaubwürdigkeit verloren - bei ihren Bürgern und in aller Welt. US-Präsident Barack Obama hat die Europäer vor ein paar Tagen sogar für unfähig erklärt, aus eigener Kraft aus der Krise herauszufinden.
Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dass die Union sich wieder als Einheit präsentiert und sich auf die gemeinsamen Stärken zurück besinnt. Das gilt für die Finanzpolitik genauso wie für die übrigen Politikfeldern.
Barroso kämpft
Die Politiker in Brüssel und den übrigen 26 Hauptstädten müssen - trotz der lähmenden Krise - wieder gemeinsame Projekte entwickeln, die diesen Titel auch verdienen. Sie müssen innovativen Ideen eine Chance geben wie einst beim Klimaschutz oder bei der Zusammenarbeit bei der Verfolgung von Straftaten. Die EU muss wieder zum Mehrwert werden - für die eigenen Bürger und für die Partner außerhalb.
Für Optimisten war die Rede von Kommissionspräsident Barroso am vergangenen Mittwoch der Auftakt für eine solche neue Zeitrechnung. Zum ersten Mal seit Monaten, wenn nicht seit Jahren, hat sich der EU-Kommissionspräsident kämpferisch gezeigt und den Großkopferten Merkel und Sarkozy sogar Vorwürfe gemacht, sie würden mit ihrer eigenwilligen Hauptstadtdiplomatie die Krise nicht lösen, sondern eher verschlimmern.
Kämpfen für die EU
Der Kommissionspräsident sagte das alles im Europäischen Parlament, also vor Publikum, von dem er wusste, dass es solche Worte mögen würde.
Nun muss er als "oberster Europäer" den Mut haben, den Staats- und Regierungschefs gegenüber genauso aufzutreten: als selbstbewusster und überzeugter Europäer, der nicht nur den eigenen Staatshaushalt und die Wähler zu Hause im Kopf hat, sondern für das europäische Abenteuer kämpft, das seine Vorgänger vor über sechzig Jahren begonnen haben.
Dann kann aus dem Aufatmen tatsächlich Aufbruch werden und aus der Europäischen Union wieder ein Projekt, für das es sich zu kämpfen lohnt.
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