Debatte AKP-Verbotsantrag: Zweite Chance zur Versöhnung
Der Türkei steht vor einem politischen Neuanfang. Weil das Verbot der Regierungspartei vom Tisch ist, sollte Erdogan jetzt eine Debatte über eine neue Verfassung anstoßen.
I n der Türkei herrschte am Donnerstag Erleichterung. Das Verfassungsgericht habe genau die richtige Haltung eingenommen, indem es die AKP verwarnte, ohne die Partei gleich ganz zu verbieten, so lautete der überwiegende Tenor. Nun sei das Theater hoffentlich vorbei. Die Erleichterung speist sich zunächst einmal aus dem Überdruss an dem Konflikt: AKP gegen Kemalisten, Religiöse gegen Laizisten, Erdogan gegen das Militär - die Mehrheit der türkischen Bevölkerung konnte es einfach nicht mehr hören.
Jürgen Gottschlich ist taz-Korrespondent in Istanbul.
Der politische Ausnahmezustand währte nun schon fast zwei Jahre. Die Krise begann im Herbst 2006 mit der Frage, ob die AKP den frei werdenden Posten des Staatspräsidenten besetzen dürfe, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon den Ministerpräsidenten und den Parlamentsvorsitzenden stellte. Außerdem hatte es seit Gründung der Republik 1924 noch nie eine First Lady gegeben, die ein Kopftuch trägt - viele sahen dadurch einen Grundpfeiler der Republik, den Laizismus, bedroht.
Die Debatte führte leider nicht dazu, dass die AKP einen Kompromisskandidaten für das Amt des Staatspräsidenten suchte. Stattdessen beharrte sie auf ihrem Recht, ihren Mann zu wählen. Doch als die Amtszeit des Präsidenten Ahmet Necdet Sezer, eines ausgewiesenen Kemalisten, im April 2007 zu Ende ging, drohte das Militär zu intervenieren. Aufgrund eines Urteils des Verfassungsgerichts wurde die Präsidentenwahl vertagt und Erdogan ließ das Parlament auflösen, um Neuwahlen anzusetzen. Diese Wahlen wurden zu einem Triumph für die AKP.
Nach dieser Wahl hätte Erdogan erstmals die Gelegenheit gehabt, mit seiner großen parlamentarischen Mehrheit und seiner unangefochtenen Autorität innerhalb der AKP einen gesellschaftlichen Prozess in Gang zu setzen, an dessen Ende ein neues Verständnis von Laizismus und ein neuer Umgang mit Religion in der Türkei hätte stehen können. Überlegungen dazu gab es - und über die Diskussion über eine neue Verfassung hätte sich, über alle Lagergrenzen hinweg, ein großes gesellschaftliches Spektrum einbinden lassen. Doch Erdogan glaubte offenbar, seine Widersacher in der Bürokratie, im Militär, aber auch in der Gesellschaft ignorieren zu können. Er entschied sich gegen diese Debatte und für seine Klientel. Gemeinsam mit den Stimmen der rechtsradikalen MHP, die ebenfalls auf das konservativ-ländliche Publikum schielt, änderte er die Verfassung in nur einem Punkt: Lediglich das Kopftuchverbot an Hochschulen und im öffentlichen Dienst sollte aufgehoben werden.
Der Sturm der Entrüstung, den Erdogan mit seinem Vorgehen erntete, erklärt sich daraus, dass sich der säkulare Teil der Bevölkerung nun in all seinen Befürchtungen bestätigt sah. Viele empfanden den Kopftuchentscheid als Anfang vom Ende des Laizismus. Auch viele Unterstützer Erdogans aus dem bürgerlich-liberalen Lager, die den autoritären Kemalismus längst leid sind und sich von der AKP mehr gesellschaftliche Freiheit und eine Verankerung in der EU erhofft hatten, wandten sich von ihm ab. Sogar der wichtigste Unternehmerverband, Tüsiad, ließ ihn enttäuscht fallen, während der größte Medienkonzern, Dogan, mit seinem Flaggschiff Hürriyet Front gegen ihn und die AKP machte. Erdogans Umfragewerte sanken und das Wirtschaftswachstum, der wichtigste Indikator für seinen Erfolg, ging - verstärkt durch die weltweite Finanzkrise - in den Keller.
Das war der Moment, auf den seine Widersacher in der kemalistischen Bürokratie gewartet hatten. In dieser Situation stellte der Generalstaatsanwalt seinen Verbotsantrag.
Das Verfahren und das Gerichtsurteil enthalten nun eine klare Botschaft an Erdogan und die AKP: Ein politischer Durchmarsch funktioniert nicht. Das gilt allerdings auch für seine Gegner. "Deshalb", so Mehmet Ali Birand, einer der klügsten Kommentatoren des Landes, "bekommt Erdogan noch eine zweite Chance."
Die so genannte kemalistische Elite bietet der AKP mit diesem Urteil einen Dialog an. Das Militär stellt sich diesem nicht in den Weg - es hat offenbar zugestimmt, dass die Scharfmacher im nationalistischen Lager aus dem Verkehr gezogen werden. Die Verhaftung hoher Exgeneräle im Rahmen der Ermittlungen gegen die "Ergenekon-Verschwörung" wären ohne Einwilligung der aktiven Militärführung kaum möglich gewesen.
Darüber hinaus findet in diesen Tagen auch noch ein Wechsel an der Spitze des Generalstabs statt. Der immer etwas polternde, für seine aggressive Rhetorik berüchtigte Armeechef Yasar Büyükanit geht in den Ruhestand. Er wird Ende August durch den bisherigen Chef der Landstreitkräfte, den wesentlich diplomatischer und geschmeidiger auftretenden Ilker Basbug ersetzt.
Damit sind alle Voraussetzungen für einen Neuanfang gegeben - vorausgesetzt, die AKP und Tayyip Erdogan machen mit. Erdogan hat allen Grund, einen konstruktiven Dialog zu suchen. Da ist einmal die Mehrheit der Bevölkerung, die des Konflikts überdrüssig ist. Politik besteht schließlich darin, nach gesellschaftlichen Kompromissen zu suchen - und die Leute wollen, dass endlich wieder Politik gemacht wird.
Das Urteil vom Mittwoch hat für die AKP in dieser Hinsicht einen ganz unangenehmen Nebeneffekt. Es raubt ihr den Opferstatus. Eines der wichtigsten politischen Pfunde, mit denen Erdogan in den vergangenen Jahren wuchern konnte, war, dass sich seine Partei - obwohl mit satter Mehrheit an der Regierung - immer noch als potenzielles Opfer der angeblich so mächtigen kemalistischen Elite gerieren konnte, die, wenn es darauf ankäme, auch die Panzer rollen lassen würde, um Erdogan wegzuputschen. Diesen Eindruck konnte man zeitweise haben, doch diese Periode ist nun vorbei. Ein Putsch der Justiz hat nicht stattgefunden und ein Militärputsch ist auch nicht mehr in Sicht.
Jetzt müssen Erdogan und seine AKP zeigen, ob sie bereit und in der Lage sind, eine Debatte über eine neue Verfassung zu initiieren, die nicht nur den Interessen der eigenen Klientel dient, sondern einen neuen Gesellschaftsvertrag zum Ziel hat. Die alte autoritäre Gesellschaftsvorstellung vieler Kemalisten ist out. Aber ist die AKP in der Lage, tatsächlich eine freiheitliche Grundordnung einzuführen, oder will sie der Gesellschaft doch nur ihren islamischen Stempel aufdrücken?
Die Erfahrungen nach dem Wahlsieg 2007 lassen Zweifel am Freiheitsbegriff vieler AKPler und ihres Vormanns Tayyip Erdogan als sehr berechtigt erscheinen. Doch Erdogan hat in der Vergangenheit häufig bewiesen, dass er lernfähig ist. Falls nicht, dürfte er seine Mehrheiten bei den nächsten regulären Wahlen ganz einfach wieder verlieren. Dann wird sich in der Türkei hoffentlich bald eine Partei gründen, die das Vakuum zwischen alten Kemalisten und neuen Islamisten füllt, und zum Träger einer echten demokratischen Entwicklung wird. Es gibt viele Menschen in der Türkei, die sehnsüchtig darauf warten.
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