piwik no script img

Dean Motters Comic „Mister X“Grandiose urbane Kaputtheit

Dank seiner Retrofuturismus-Optik war „Mister X“ in den Achtzigern stilbildend. Als Sammelband gibt es ihn jetzt auch auf Deutsch.

Radiant City: die Autos können fliegen, aber die Stadt macht wahnsinnig. Bild: Verlag Schreiber & Leser

So viel zu tun und so wenig Zeit! Schattengleich huscht der Mann durch die endlostiefen Straßenschluchten seiner Stadt, drahtig, hager, ewig gehetzt, Drogen halten ihn wach, seit vielen Wochen schon. Er hat diese Stadt erschaffen, jetzt will er sie reparieren.

Und tatsächlich scheint er sie zu beherrschen, kann dank seines exklusiven Zugangs zu einem Geheimgangsystem überall verschwinden und auftauchen und kennt alle wichtigen Strippenzieher. Doch wer ist dieses Mysterium mit Glatze, Trenchcoat und Sonnenbrille?

Der Kanadier Dean Motter ist der Schöpfer von „Mister X“, zwischen 1983 und 1988 jagte er ihn durch 14 Bände voll mit Intrigen, Toten, Entführungen und Verstrickungen, in Szene gesetzt von jungen Talenten der alternativen Comicszene: Den Brüdern Gilbert, Jaime und Mairo Hernandez, die dank ihrer „Love + Rockets“-Reihe längst Legendenstatus haben, sowie den Zeichnern Seth und Paul Rivoche.

Die düstere, postmoderne New-Wave-Optik von „Mister X“ war stilbildend, ein Vorbild etwa für Tim Burtons Kinointerpretation von Batmans Gotham City oder Terry Gilliams „Brazil“.

taz am Wochenende

Als ein Chemiker 1958 die Diätmargarine erfindet, will er das Essen gesünder machen. Als ein Softwareentwickler 2013 aufhört zu essen, will er sich optimal ernähren. Wie das geht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 25./26. Januar 2014 . Außerdem: Ein Jahr nach dem #aufschrei haben wir die Protagonistinnen der Debatte wieder an einen Tisch gebeten. Ein Streitgespräch. Und: Die Jungen von Davos. Das Weltwirtschaftsforum ist nicht nur der Treffpunkt grauhaariger, alter Manager. Es nehmen immer mehr teil, die eine bessere Welt wollen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Kilometerhohe Art-déco-Hochhäuser mit gigantischen Foyers

Der Hamburger Verlag Schreiber & Leser, zu dessen Schwerpunkt Krimi-, Noir- und Erotik-Stoffe gehören, hat nun sämtliche Bände des Motter-Zyklus veröffentlicht und sie dafür umfangreich restauriert: Auf jeder Seite der Originalscans wurden digital die Druckraster und bei Bedarf auch Farbschatten entfernt. Drei Vorworte, einiges Bonusmaterial und das von Motter schon 2008 neu gestaltete Ende der letzten Episode runden den Sammelband ab.

Doch ist Mister X, das verrät ja schon sein Platzhaltername, gar nicht der Mittelpunkt dieser Geschichte. Denn die wahre Hauptfigur ist eine Stadt: Radiant City! Kilometerhohe Art-déco-Hochhäuser mit gigantischen Foyers und Hallen streben hier in den von Scheinwerferkegeln zerschnittenen Nachthimmel, verbunden von schwindelhohen Brücken wie in dem Filmklassiker „Metropolis“.

Nicht ein Baum, nicht ein Grashalm existiert in dieser Stadt der Zukunft, deren Schatten, Formen und Fluchten von den Zeichnern grandios in einer retrofuturistischen Dieselpunk-Ästhetik festgehalten wurden: fliegende Autos im Stile von 50er-Jahre-Straßenkreuzern, Zeppeline und schnittige Schnellzuglokomotiven, Zeitungsstreiks und Roboter prägen das Bild – Computerdisplays gibt es hingegen nicht.

In einem Interview mit dem Berliner Stadtmagazin Zitty betonte Motter auch den „großen deutschen Einfluss“ auf Mister X, von der Architektur der Bauhausmoderne über die Filmkulissen des Stummfilmexpressionismus, beim Entwurf des Szenarios lief zudem Musik von Kraftwerk und Tangerine Dream.

Designerdrogen spielen eine bedeutende Rolle

Gebaut wurde Radiant City, natürlich, als Utopie, von den fähigsten Architekten seiner Zeit, Simon Myers und Walter Eichmann. Die Stadt sollte den Prinzipien der Psychotektur folgen, einer Feng-Shui-artigen Wissenschaft, laut der die äußere Verfasstheit der Stadtstrukturen die Stimmung ihrer Bewohner steuert.

Doch die Zeit wurde knapp, die Architekten zerstritten sich, Eichmann tauchte unter, und aus der Utopie wurde ein Moloch mit defekter Psychotektur, der seine Bewohner in den Wahnsinn treibt: Ständig sehen wir Menschen auf die Straßen stürzen, das einzige Ziel der Schnellzüge scheint die Ninth Academy zu sein, eine Mischung aus Sanatorium und Irrenanstalt.

Designerdrogen spielen eine bedeutende Rolle in Radiant City, Leprocyllin, Poltercain, Insomnalin, Metamorphin heißen sie. Der Wunsch nach Schlaflosigkeit, nach der Selbstoptimierung mit Wachmachern ist ein Dauerthema der Comicserie und lässt sie heute, in Zeiten von Neuro Enhancement und steigendem Ritalinkonsum, noch immer aktuell erscheinen. „So viel zu tun – und so wenig Zeit!“ ist das Mantra von Mister X.

So lustvoll klischeebeladen wie die urbane Kaputtheit von Radiant City ist auch ihr Personal, das aus einem Hardboiled-Crime-Groschenheftchen stammen könnte: Da ist der schmierige Gangsterboss mit der Femme fatale als Liebchen, da sind die korrupte Elite, der mächtige Konzern, der heimlich die Stadt mit Drogen versorgt, und die Unschuld vom Lande, die sich in Mister X – Santos nennt sie ihn – verliebt hat.

Kein Superheld, Manipulator oder genialer Meisterdieb

Doch ist dieser Mister X trotz seiner unklaren Identität und seines Wissensvorsprungs kein Superheld, Manipulator oder genialer Meisterdieb. Im Gegenteil, ständig sehen wir ihn scheitern und flüchten, er wird verprügelt und verraten, scheitert an Empfangsdamen und kämpft mit Entzugserscheinungen. Er ist so kaputt wie die Bewohner seiner Stadt, der größte Junkie von allen.

Wobei seine Geschichte auf den Leser selbst ebenfalls wie Schlafentzug auf chemischen Drogen wirkt. Sind die Zeichnungen der ersten Bände noch recht realistisch gehalten, wird es bei den Visualisierungen von Seth mit jeder Folge schneller, karikaturenhafter, flapsiger. Mit fettem Strich wirft er Pop-art-hafte Abstraktionen aufs Papier.

Der Comic

Dean Motter, Seth, Paul Rivoche, Gebrüder Hernandez: „Mister X“. Aus dem Englischen von Bernd Weigand. Schreiber & Leser, Hamburg 2013, 383 Seiten, 39,80 Euro.

Und auch das Erzähltempo steigt stetig, immer atemloser folgen die Ereignisse aufeinander, immer weiter verliert man den Zugriff auf das Geschehen und versinkt immer tiefer in dem Irrsinn, der jeden Bewohner von Radiant City unweigerlich befällt. So viel zu tun und so wenig Zeit!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!