Das versteckte Kind in ihm

Armistead Maupin hat seinen neuen Roman, „Der nächtliche Lauscher“, mit einem realen Medienskandal kurzgeschlossen. Der Trick gelingt – so sehr, dass das eigentliche Thema des Buches fast verschwindet: die Sehnsucht nach (schwuler) Vaterschaft und nach Anerkennung durch den eigenen Vater

von RAINER HÖRMANN

Gerade ein dünnes Kapitelchen gab der Erfolgsautor Armistead Maupin bei seiner Lesung in Berlin zum Besten. Genug aber, damit die Zuhörer ahnten, dass die Story von einem Schriftsteller handelt, der gern aus einer Mücke einen juwelengeschmückten Elefanten macht. Einem Autor, der gerade von seinem Freund Jess verlassen wurde und der immer noch Probleme mit seinem Vater hat. Dem das Buchmanuskript eines dreizehnjährigen aidskranken Jungen namens Pete zugespielt wurde. Der, fasziniert und ergriffen von dessen Schicksal, eine Telefonbeziehung mit ihm beginnt.

Das war’s. An dieser Stelle legte Maupin seinen Roman beiseite und verkündete die Sensation. Der Plot mit dem Jungen basiere auf wahren Geschehnissen. Er, Maupin, habe tatsächlich so ein Manuskript erhalten, der Junge habe sich in Wahrheit Anthony Godby Johnson genannt. Allmählich seien Zweifel aufgekommen, ob der Junge wirklich existiere. Und nun, zum Zeitpunkt der Lesung, sei es fast sicher, dass sich eine erwachsene Frau für den aidskranken Anthony ausgegeben habe.

Eine unerhörte Neuigkeit, der Plot einer modernen Novelle. Maupin hält das Publikum in Bann. Man will mehr über den Vorfall wissen, auch warum die Frau das tat. Die Lesung, nunmehr eine Fragestunde der Suche nach Wahrheit, geht ihrem Ende zu. Dem Star bleibt nur noch, lachend und ein wenig verlegen, anzumerken, es gebe aber noch andere Themen und Handlungen im Roman, die das Lesen und den Kauf rechtfertigten. Nur welche, will er nicht mehr sagen – und das Publikum nicht wissen.

Es war die seltsamste Erfahrung meines Lebens“, sagt Maupin im Interview vor der Lesung, als er dem unwissenden Journalisten ebenfalls die Wahrheit hinter der Fiktion diktiert. „Doch anders als die Romanfigur Gabriel Noone war ich eher fasziniert als erschrocken.“ Von Anfang an sei ihm klar gewesen, dass er über dieses „Geschenk“ eines „eigenen Hitchcock-Thrillers“ einen Roman schreiben müsse. Bekommen hatte er die Teilnahme an einem jahrelangen betrügerischen Spiel.

An dessen Ende erwies sich der angeblich aidskranke und missbrauchte Junge Anthony Godby Johnson, dessen Buch „A Rock and a Hard Place“ große Medienaufmerksamkeit genossen hatte, als Täuschung. Eine erwachsene Frau hatte jahrelang mit verstellter Stimme „Tony“ gespielt und zahlreiche Prominente, darunter auch Maupin, hinters Licht geführt. Erst im November vorigen Jahres hatte sich ein Autor im New Yorker getraut, den Spuk zu entlarven. Zu diesem Zeitpunkt war Maupins „Der nächtliche Lauscher“ bereits zum Bestseller avanciert.

Dass vorgeblich „echte“ Personen und Biografien sich als Fiktion herausstellen, ist nicht neu. Die in Binjamin Wilkomirskis Roman „Bruchstücke“ als autobiografisch ausgegebene jüdische Kindheit im Konzentrationslager erwies sich als Fiktion, und vor einigen Jahren stellte sich eine pulitzerpreisgekrönte Reportage der Washington Post über ein heroinabhängiges Kind als Schwindel heraus. Es scheint ein Bedürfnis nach „wahren Geschichten“ zu geben, eine Bereitschaft, Dinge zu glauben, ohne sie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu wollen oder zu können.

Theorie ist Maupins Sache nicht. Sein Roman konzentriert sich auf das individuelle Erleben des Protagonisten. Ein für Maupin typisches Verfahren, vielleicht eine seiner Schwächen. Aber eine, die ihm Popularität sichert. Geschickt montiert der Autor den mysteriösen Medienbetrug mit der Schilderung der Lebenswelt des Protagonisten Gabriel Noone: schwul, fünfzig, erfolgreicher Geschichtenerzähler im Radio, vom Liebhaber verlassen, nun in einer Schaffenskrise. Ein Problem vieler seiner Altersklasse wird individualisiert.

Im Interview fühlt sich Maupin geschmeichelt, wenn man auf die vor allem psychologische Vielschichtigkeit seines Romans anspielt. Versuche, weitere Erläuterungen von ihm zu erhalten, weist er kategorisch zurück. Er fühlt sich wohler, wenn er Fragen zu seiner Person beantworten oder über den Medienskandal reden kann.

Ist die Figur des imaginären Sohns Pete nicht mehr als eine Metapher? „Pete ist Anthony G. Johnson!“ Was Pete für andere noch sein könnte, das, sagt Maupin, „steht nicht in meinem Buch“. Und Noone ist natürlich, das gibt der Schriftsteller gerne zu, das Alter Ego von Maupin. Und Jess ist Terry Anderson, Maupins Expartner und Manager – Eins-zu-eins-Analogien, die von Maupins Unwillen zum, wie er es nennt, „theoretisierenden Buchgespräch“ ablenken.

Wer die Geschichte des vorgefallenen Medienbetrugs vergisst, dem schildert „Der nächtliche Lauscher“ die Verführung des alternden Schriftstellers Gabriel Noone durch Pete, eine als „Sohn“ bezeichnete Telefonstimme. Der Weg zu diesem „Sohn“ wird zur Suche eines allein gelassenen Schriftstellers nach Ersatz für eine verlorene Beziehung und eine verlorene Kreativität.

Die Beziehung zu Jess ist zerbrochen, weil dieser nicht an Aids gestorben ist. Jahrelang hatte man in Erwartung des Todes gelebt, nur das Hier und Jetzt zählte. Neue Aidsmedikamente sichern das Überleben. Plötzlich ist wieder Zukunft. Jess drängt es, die so lange als unmöglich verworfenen Lebensideen zu verwirklichen, entflieht der Enge der Partnerschaft, zieht aus dem gemeinsamen Haus aus.

Maupin greift hier eine beginnende Veränderung in der schwulen Community auf. Die (zumindest in der westlichen Welt) reale Chance, das HI-Virus dauerhaft in Schach zu halten, eröffnet tausenden von Schwulen neue Lebensperspektiven, die auf eine veränderte, tolerantere Haltung der Gesellschaft treffen. In seinen berühmten „Stadtgeschichten“ thematisierte Maupin als Erster die beginnende Aidsepidemie, nun denkt er als einer der Ersten an eine Zeit danach. Er nennt den Roman darum auch „eine Variation“ bisheriger Aidsromane, die die Trauer um Verstorbene thematisieren. „Es ist doch wunderbar, wenn man sagen kann, mein Partner hat überlebt. Weder das Leben noch der Tod sind vorhersehbar.“

Das Überleben hat seinen Preis, auch im Roman. Das Bedürfnis, Nichtgelebtes nachzuholen, sprengt die schwule Beziehung. Nicht nur der HIV-positive Jess, auch sein nichtpositiver Partner Gabriel Noone muss sich verändern. Sein „Pflegefall“ hatte ihm viele Jahre das Nachdenken über sich selbst erspart. Die neue Situation bedeutet für Noone zunächst einmal Einsamkeit und Depression.

Zum Morgen führt der Weg bekanntlich immer über das Gestern. So verwirklicht sich Jess wenig originell als Motorrad fahrender Ledermann, und Noone arbeitet sich am schwelenden Konflikt mit seinem Vater ab. Noones Vater ist das, was der schwule Sohn nicht sein darf, nicht sein kann: Vater.

Als Pete in sein Leben tritt, ähnelt der auf fatale Weise dem Exlover. Pete hat das, was Jess hinter sich gelassen hat: die Aussicht auf einen baldigen Tod. Wo sich Jess den fürsorgenden und liebevollen Gefühlen seines Partners Gabriel entzogen hat, verspricht ein dreizehnjähriger Junge ein besseres Objekt väterlicher Kontrolle zu werden. Doch er entwickelt sich zu einem Spuk, der den Vater kontrolliert.

Die Vaterthematik drängt sich angesichts von Maupins Alter, 58 Jahre, geradezu auf. Er verneint jedoch, wenn man ihn fragt, ob er sich einen Sohn wünsche. Wenn andere Schwule Kinder aufziehen wollen, ist das für ihn verständlich. „Es ist gut, dass es eine solche Option gibt.“ Also gibt es doch einen Bezug der Romanfigur Pete zu verdrängten Sehnsüchten der Homosexuellen? Keine Antwort. Auch der letzte Versuch scheitert an Maupins Koketterie, den eigenen Roman nicht erklären zu wollen.

Lesen lässt sich sein Roman, so oder so, als Versuch eines älteren Homosexuellen, die Tragfähigkeit von Vater-Sohn-Verhältnissen zu testen. Als Protokoll eines Mannes, der Liebe und Fürsorge geben möchte. Ein Bedürfnis, das Maupin gern eingesteht. „Ich liebe es, die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, an jüngere Schwule weiterzugeben, um ihnen das Leben einfacher zu machen. Wenn sie kommen, um sich an deiner Schulter über ihre Probleme auszuheulen, dann ist das ein Zeichen von Vertrauen, das ich genieße.“

Im Roman haben diese Bindungen jedoch keine Dauer. Pete erweist sich als Spuk, der sich in Luft auflöst, als der Protagonist ihm zu nahe kommt. Ein erfüllendes Vater-Sohn-Verhältnis oder was auch immer aus einer solchen Beziehung hätte erwachsen können ist – trotz der heimlichen Sehnsucht, die das Buch offenbart – nicht möglich.

So bleibt „nur“ die Literatur, der Roman. Damit fällt Maupin zurück in den Mythos einer gesellschaftlich unfruchtbaren Homosexualität. Wenngleich mit einer typisch „modernen“ Wendung: Schriftsteller müssen nicht mehr, wie noch Thomas Manns Figur des Aschenbach in der Novelle „Tod in Venedig“, sterben, nur weil sie sich einer geächteten Sehnsucht hingegeben haben.

Der Mann aus San Francisco sagt am Ende noch dies: „Gabriel Noone entdeckt das Wesen der Liebe, als er erkennt, dass er mit seinem Freund Jess auch nach der Trennung verbunden bleibt.“ Nur Maupins väterliches Wesen kann einem diese Ernüchterung so charmant verkaufen.

RAINER HÖRMANN, 37, hauptberuflich Redakteur eines Internetmagazins für Jugendliche, arbeitet zudem als Autor für verschiedene Printmagazine und lebt in BerlinArmistead Maupin: „Der nächtliche Lauscher“. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2002, 352 Seiten, 19,90 Euro