Das milde Licht der Entschuldung

Altnazis mit beschönigter Vita prägten die Zeitungslandschaft und den Diskurs der frühen Bundesrepublik: Axel Schildts posthume Geschichte der Medien-Intellektuellen ist ein Opus magnum

Unprätentiös, humorvoll, anregend: Sozialhistoriker Axel Schildt 2012 in der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Hamburg. Seine Geschichte der Medien-Intellektuellen ist jetzt, ein Jahr nach seinem Tod erschienen Foto: Miguel Ferraz

Von Frauke Hamann

Der moderne Intellektuelle kann nicht ohne den Einfluss des Journalismus bestimmt werden – Intellektuellengeschichte ist zugleich Mediengeschichte. Diese Einsicht liegt dem letzten Buch des 2019 gestorbenen Hamburger Historikers Axel Schildt zugrunde: „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“ heißt es und ist jetzt im Göttinger Wallstein-Verlag erschienen. Die fortwährende Medialisierung ist Schildt zufolge entscheidend bei der Entstehung von Diskursen. Sie wirkt sich aus auf Status und Verhalten.

Schildt untersucht das nicht durch „Höhenkammforschung“: Er schaut vielmehr auf die westdeutsche Ideenlandschaft, wer sie bestimmt hat, wie sie sich ausformte und wandelte: Roter Faden des Buchs sei „die unauflösliche Verbindung von Medien und Öffentlichkeit auf der einen und der in ihnen und durch sie agierenden Intellektuellen auf der anderen Seite“, schreibt er.

Die „rasche Rekonstruktion und Ausweitung des Medienensembles“ – gemeint sind Printmedien, Rundfunk und Fernsehen – sei die Basis gewesen „für den wachsenden Einfluss intellektueller Meinungsbildner“. Wer wöchentlich mehrere Beiträge für Leser und Rundfunkhörer publizieren wollte, benutzte in den 1950er-Jahren ein Diktiergerät. Wenig später erleichtern Fotokopierer den Austausch von Texten – bis zur grundstürzenden Einführung des Personal Computers Anfang der 1980er. Schildt untersucht zunächst das sich neu ordnende intellektuelle Feld nach Kriegsende 1945. Eigentlich ein Buch für sich ist dann das über 300 Seiten starke zweite Kapitel „Einübung des Gesprächs“: Es porträtiert die intellektuelle Öffentlichkeit der 1950er-Jahre mit zentralen Themen und Debatten, ihre Protagonisten und deren Foren. Das dritte Kapitel behandelt die Fernsehgesellschaft der 1960er, in denen „die Rollen für die intellektuellen Diskurse neu vergeben“ worden seien.

Intellektuelle Konversionen hätten die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmt, lautet eine zentrale These. Schildt verdeutlicht, wie lange personale Kontinuitäten wirksam blieben. NS-Aktivisten war daran gelegen, als „Mitläufer“ zu gelten, sie gaben Konflikte im „Dritten Reich“ als Beleg für ihre oppositionelle Position aus, verknüpften Widerstand mit „innerem Widerstand“ zur Verdunklung der eigenen Karriere, um sich eine opportune Reputation zu verschaffen.

Die Remigranten sind dagegen in der Minderzahl: „Nicht mehr als etwa 1.000 Intellektuelle kehrten aus dem Exil zurück. Von insgesamt etwa 2.000 Journalisten im Exil waren in der Nachkriegszeit etwa 180 in den Printmedien tätig, dazu noch einmal 60 bis 70 in den Radiostationen.“ Zumal die auflagenstarke christliche Wochenblatt-Publizistik habe sich als „effiziente Entbräunungsanstalt für NS-belastete Intellektuelle“ bewährt. Überhaupt fördern Schildts Tauchgänge in die Archive manchen Schatz zutage, etwa Kurt Hillers Charakterisierung von Springers Welt als „einschläfernde Kakophonie, halb von opportunistischen Streberchen, halb von Bählämmern aufgeführt“.

Medienintellektuelle Zentren waren München, Frankfurt am Main und Hamburg. Entscheidend für ihre Etablierung: das Vorhandensein einer Rundfunkanstalt und von Presseunternehmen mit überregional wahrgenommenen Qualitätszeitungen, Buchverlage sowie einer „Universität als akademischer Resonanzboden“, so Schildt. Diese „medialen Standortmuster“ entwickelten sich unmittelbar nach dem Krieg. Akribisch schildert Schildt die explosionsartige Vermehrung von Kulturzeitschriften nach 1945.

Dieser „Zeitschriftenfrühling“ endete jedoch 1948 mit der Währungsreform: vier bis fünf Tageszeitungen, ebenso viele Wochenzeitungen und politisch-kulturelle Zeitschriften sowie ein halbes Dutzend Publikumsverlage seien in der Gründungsphase der Bundesrepublik tonangebend gewesen, mit einer konservativeren Hegemonie im Print. Dass der Rundfunk in den 1950er-Jahren eine tragende Rolle bei der Pluralisierung der intellektuellen Debatten spielte, begründet sich für Schildt teils aus der Eigenheit des permanenten Sendens. Mehr noch aber aus einem Netz persönlicher Kontakte und Verbindungen – und schließlich aus der Attraktivität des „Rundfunks als Broterwerb“, wie er Siegfried Lenz zitiert.

„Das Themenspektrum war bunt, die Bereitschaft zur öffentlichen Äußerung groß, die Positionen waren sehr unterschiedlich, die Debatten lebhaft“

Axel Schildt (1951–2019) korrigiert das Bild der Adenauer-Ära

Nur ein Beispiel: Der heute vergessene Dolf Sternberger erhielt für einen 15-minütigen Beitrag „Über die Nüchternheit“ 200 D-Mark Honorar – in einer Zeit, als der durchschnittliche Facharbeiter-Monatslohn 300 DM betrug.

Keine Experimente? Anders als der Wahlslogan der Kanzler-CDU aus dem Jahr 1957 suggeriert, veränderten sich die Diskurse im Laufe der 1950er-Jahre. „Düstere Endzeitstimmung, Technikfeindschaft, Massenphobien und Elitedenken wurden nun in den Medien zunehmend von nüchternen, ‚modernen‘ Stellungnahmen abgelöst.“ Überhaupt konterkariert Schildt die verbreitete Vorstellung einer langweilig-eintönigen Adenauer-Ära: „Das Themenspektrum war bunt, die Bereitschaft zur öffentlichen Äußerung groß, die Positionen waren sehr unterschiedlich, die Debatten lebhaft. Sie begleiteten eine rasante Modernisierung der gesamten Lebenswelt.“

Zugleich herrscht eine erhebliche „Entschuldungskonjunktur“: Die Umdeutung von auch in der NS-Zeit publizierenden Intellektuellen zu Opfern tauchte, nicht nur die, sondern „zugleich Belastungen ihres Publikums in ein milderes Licht“, so Schildt.

„Medien-Intellektuelle“ ist eine eminente Leistung, nicht nur, was den Umfang angeht. Schildt, von 2002 bis 2017 Direktor der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte, analysiert detailliert zahlreiche Netzwerke, intellektuelle Orte und Wirkungsweisen. Aber dieses Buch zu empfehlen, geht mit Trauer einher, weil dieser so unprätentiöse wie humorvolle Mensch, dieser große Anreger, nicht mehr lebt. Was auch heißt: Der leidenschaftliche Forscher und Lehrer hinterlässt ein unvollendetes Opus magnum. Denn eigentlich hatte er die vier Dekaden bis 1989 analysieren und einen Ausblick auf die Intellektuellen „auf dem Weg in die Berliner Republik“ wagen wollen. Der Verlag macht diese Lücken kenntlich, indem er das gesamte Inhaltsverzeichnis druckt, die zwei ungeschriebenen Kapitel in mattgrauem Schriftbild. So ist auch bei der Lektüre sichtbar: Axel Schildt fehlt.

Axel Schildt: „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“, von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried (Hg.), Wallstein-Verlag, 896 S., 46 Euro; E-Book 36,99 Euro