: „Das ist doch keine politische Haltung!“
■ Auszüge aus der Rede des PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi vor der Volkskammer in der Nacht zum Donnerstag
DOKUMENTATION
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal stört, glaube ich, an dieser Sitzung, daß das Ganze sich wieder einmal für alle Abgeordneten dieses Hauses etwas überfallartig gestaltete. (Beifall bei PDS und SPD) Und das, nachdem gestern bei dem Gespräch der Fraktionsvorsitzenden mit dem Ministerpräsidenten der DDR eigentlich in zwei wichtigen Fragen Übereinstimmung und relative Klarheit bestand, (...) nämlich erstens, die Probleme in unserm Land nicht weiter durch permanente Termindiskussion zum Beitritt zu erschweren, und zweitens, am 9. Oktober 1990 eine Sondersitzung der Volkskammer durchzuführen, auf der endgültig über den Beitritt entschieden wird (...).
Es gibt einen Beschluß der Volkskammer. Wie ernst nehmen wir uns denn eigentlich selbst? Mit Mehrheit beschlossen: „Vor dem Beitritt sollen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens: Ratifizierung eines Einigungsvertrages“ zwischen der DDR und der BRD, nicht: Ratifizierung eines Einigungsvertrages oder irgendwas anderes, stand da drin. Zweitens: Sicherung der äußeren Aspekte der Einigung in den Zwei-plus-vier-Gesprächen. Drittens: Bildung der Länder.“ Ende des Beschlusses der Volkskammer. Wir haben uns selbst Bedingungen gesetzt (...).
Klar ist doch, es gibt immer noch Rechte der Alliierten. Klar ist auch, die sollen beendet werden. Die Souveränität Deutschlands soll in vollem Umfang hergestellt werden. Eine Bedingung der vier Siegermächte war, daß sie darüber eine vertragliche Vereinbarung mit den beiden deutschen Staaten zustande bringen wollen und daß wir dann (...) in die vollständige Souveränität entlassen werden.
Und jetzt machen wir hier folgendes, jetzt schreibt die Volkskammer den vier Mächten das Datum vor (...). Da steckt eine Portion Anmaßung hinter, die ich für gefährlich halte (...) Was passiert denn nun zum Beispiel, wenn sich etwas verzögert? (...)
Wir haben die Pflicht - dafür werden wir übrigens auch nicht schlecht bezahlt -, uns Gedanken über eine bestimmte Zeit hinaus zu machen und offen diese Wahrheiten auszusprechen. Es ist doch im Augenblick so: Wir haben den Einigungsvertrag noch nicht. Mit anderen Worten: Die Ergebnisse der Bodenreform sind noch nicht gesichert; die Eigentums- und Nutzungsrechte der DDR-Bürgerinnen und -Bürger sind noch nicht gesichert; das gleiche gilt für Mietrecht, das gleiche gilt für bestimmte Sonderregelungen in der DDR - ich erinnere an die selbstbestimmte Schwangerschaft und Mutterschaft der Frauen, ich erinnere an viele andere Fragen, die ja mit eingebracht werden sollen in einen solchen Einigungsvertrag (...).
Wirtschaftliche Maßnahmen, wichtige wirtschaftliche Maßnahmen können wir doch sofort beschließen - wer hindert uns denn zum Beispiel daran, den Schuldenerlaß per 30.6.1990 für private, genossenschaftliche und volkseigene Betriebe zu beschließen? (Beifall bei der PDS) Wer hindert uns denn daran, Maßnahmen für die Landwirtschaft zu beschließen? (...) Wer soll denn eigentlich diese Ergebnisse zum Beispiel der Bodenreform oder diese Eigentums- oder Nutzungsrechte für DDR-Bürgerinnen oder -Bürger sicher in eine deutsche Einheit hineinbringen, wenn nicht die Volkskammer der DDR? Wir sind doch die gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, um ihre Interessen und Rechte zu sichern und nicht, um zu sagen: Wie das auch immer mal wird in Zukunft - wir gehen da jetzt rein, wir konnten leider für euch nichts sichern. Das ist doch keine politische Haltung, das kann nicht der Ausgangspunkt unserer Entscheidungen sein! (Starker Beifall bei der PDS)
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