■ John Kenneth Galbraith kritisiert „Befriedigungskultur“ Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft: Das gute Leben winkt
Früher kreiste alles ökonomische und soziale Denken um eine bilaterale ökonomische und soziale Struktur. Kapital und Arbeit, Kapital gegen Arbeit: dies war die grundlegende Dialektik. In den fortgeschrittenen Industrieländern gilt dies nicht mehr. Die große politische Dichotomie zwischen Kapitalisten und arbeitenden Massen ist in den Hintergrund getreten. An die Stelle des individuellen Kapitalisten ist die moderne Konzernbürokratie getreten. Gewerkschaften fristen noch ihr Leben, aber nicht mehr als vorwiegend kämpferische Kräfte auf der Seite der Erniedrigten und Entrechteten. Dezimiert durch den Niedergang oder die Abwanderung der Massenproduktionsbetriebe, finden sie sich häufig in einem stillschweigenden Bündnis mit dem Management, um gemeinsam zu überleben. Die Erwähnung des Wortes Klassenkampf wirkt inzwischen deutlich obsolet. Das soll allerdings nicht bedeuten, das Klassensystem sei beendet.
Wir besitzen jetzt eine neue Klassenstruktur: einerseits umfaßt sie die Gesamtheit der Begüterten, die an die Stelle der einstmals vorherrschenden Kapitalisten getreten sind, und auf der anderen Seite eine große Zahl weniger wohlhabender oder gar verarmter Menschen, die all die Arbeit tun, die das Leben angenehm oder auch nur erträglich macht – Arbeit für die Befriedigungskultur. Die moderne Unterklasse leistet einen Großteil der schweren repetitiven Industriearbeit, die es auch weiterhin gibt. Sie erbringt außerdem die Vielzahl der Dienstleistungen, deren die Gesellschaft der Begüterten bedarf.
In den begünstigten Ländern sprechen wir viel von Demokratie, aber die kann eine sehr unvollkommene Angelegenheit sein. So, wenn gerade die bedürftigsten und verletzlichsten Menschen nicht am politischen Prozeß teilhaben. In der guten Gesellschaft muß es diese volle demokratische Teilhabe für alle geben, denn nur daraus kann ein Gemeinschaftsgefühl erwachsen, das Vielfalt akzeptiert und sogar hochschätzt. Sobald ihre politische Aktivität wahrgenommen wird, dürfte sich vor allem die Einstellung gegenüber Minderheiten verändern. Politiker werden häufig nur durch den Gedanken an Wählerstimmen zur Tugend gezwungen. Aber die volle Teilhabe der gegenwärtig Ausgeschlossenen erfordert konkrete Schritte des Staates.
Da gibt es zunächst das unausweichliche Erfordernis, daß in der guten oder auch nur anständigen Gesellschaft jeder über ein grundlegendes Einkommen verfügt. Und wenn das Marktsystem dies nicht leisten kann, muß das Einkommen vom Staat kommen. Nichts schränkt die Freiheit des Bürgers stärker ein als totaler Geldmangel.
In den begünstigten Ländern wird viel von den moralischen Schäden gesprochen, die öffentliche Unterstützung bei den Armen anrichte. Das ist die bequemste Doktrin für jene, die überzeugt sind, diese Hilfe werde auf ihre Kosten geleistet. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der jedem eine nützliche Beschäftigung offensteht. Wenn und wo diese Chance fehlt, ist eine alternative Form des Einkommens – nämlich öffentliche Hilfe – absolut vonnöten. Hilfe muß auch jenen zur Verfügung stehen, die wegen Krankheit oder ihrer Familiensituation nicht arbeiten können. Natürlich wird es immer Mißbrauch geben: Menschen sind nicht vollkommen. Eine gewisse Neigung zur Muße soll ja auch unter den Reichen nicht völlig unbekannt sein!
Sodann müssen die Menschen die Möglichkeit haben, aus der Unterklasse aufzusteigen. Dem politischen Frieden ist die Hoffnung auf solchen Aufstieg überaus dienlich. Nichts Neues ist hier erforderlich: es ist Ausbildung – Investition in die Menschen. Es gibt heutzutage keine gut ausgebildete Bevölkerung mit geringem Analphabetismus, die arm wäre; es gibt keine analphabetische Bevölkerung, die nicht arm wäre.
Einige weitere Bereiche staatlichen Handelns liegen auf der Hand. In keinem Land liefert das Marktsystem preiswerte und gute Wohnungen. Auch die Gesundheitsversorgung muß allen zivilisierten Ländern öffentliche Aufgabe sein. Niemand darf wegen seiner Armut zu Krankheit oder Tod verurteilt werden. Bei vielen weiteren notwendigen Funktionen des Staates – zum Beispiel der Errichtung und Unterhaltung von Parks und Erholungsstätten, Polizei, Bibliotheken, der Förderung der Künste – muß berücksichtigt werden, daß sie für die Unterklasse wichtiger sind als für die Wohlhabenden. Gegen die Dienstleistungen des Staates sind gewöhnlich jene eingestellt, die es sich leisten können, entsprechende Dienste zu bezahlen.
In der guten Gesellschaft müssen auch eine Reihe anderer Aktivitäten berücksichtigt werden, die jenseits des kurzfristigen Zeithorizonts der Marktwirtschaft liegen. Dies gilt besonders für die Wissenschaften, auch für die medizinische Forschung. Einige der wirklich wichtigen industriellen Leistungen der letzten Generationen hingen in hohem Maße von derartigen öffentlichen Investitionen ab. Und widerwillig beginnen wir schließlich zu begreifen, daß Investitionen und Gesetzgebung im längerfristigen Interesse der Umwelt unumgänglich sind.
Es bleiben zwei letzte Anforderungen an die gute Gesellschaft. Sie braucht eine leistungsfähige Wirtschaft. Und sie muß mit sich und der Welt in Frieden leben.
In den letzten Jahren sind die begünstigten Länder in die Rezession geraten. Es gibt dafür keinen einzelnen Grund, aber zwei Faktoren stechen hervor: die extreme Spekulation der 80er Jahre und eine Neuverteilung der Einkommen zugunsten der sehr Reichen. Die gute Gesellschaft muß sich auf sehr praktische Weise mit dem Problem der Rezession und Depression auseinandersetzen. Zentral wäre eine gleichmäßigere Verteilung des Einkommens, als sie durch das Marktsystem gewährleistet wird. Dies könnte sich auch mäßigend auf spekulative Exzesse auswirken. Vor allem aber würde eine gleichmäßigere Kaufkraft in Zeiten der Rezession erreicht. Ich kann mir keine rigide Gleichheit des Einkommens vorstellen und befürworte sie auch nicht. Eine einigermaßen gleichförmige Verteilung des Einkommens ist nicht nur sozial richtig, sondern auch ökonomisch funktional.
Auseinandersetzen muß man sich auch mit der Tendenz der modernen Marktwirtschaft zu Perioden der Mutlosigkeit und Depression wie derzeit. Dazu bedarf es einer aktiven Intervention der Regierung, wobei Zinssenkungen nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluß sind. In Rezessionszeiten müssen Regierungen aggressiv vorgehen, um Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Sobald der Wiederaufschwung gesichert ist, muß Disziplin herrschen, damit Grenzen gesetzt und die Regierungsausgaben gesenkt werden können; verständlich ausgedrückt: Das Defizit muß sinken. Regierungen müssen in dieser Frage auch zusammenarbeiten. Die gegenwärtige Diskussion über Handel und Handelsschranken muß teilweise übergehen in die Diskussion einer gemeinsamen Fiskalpolitik: expandierend, wenn dies angezeigt ist, einschränkend, wenn Einschränkungen erforderlich sind.
Dieser Politikentwurf ist nicht populär: In der Befriedigungskultur gibt es genug Menschen mit gesichertem Einkommen, die mit der Rezession oder ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen keine besonderen Schwierigkeiten haben. Die gute Wirtschaftsgesellschaft kann ihnen keine Konzessionen machen.
Darüber hinaus wünsche ich mir, vor allem für die USA, die Demilitarisierung. Das militärische Establishment ist in beunruhigendem Maße zu einer eigenständigen Macht geworden – auch dies ist ein Hinweis auf eine unvollkommene Demokratie. In der guten Gesellschaft möchte ich außerdem erleben, daß der Waffenhandel wirksam eingeschränkt wird. Nichts ist heutzutage erschreckender als der ständige Strom tödlicher Waffen aus den reichen Ländern in die armen – in Länder, die jederzeit Waffen gegen das eigene Volk oder die Nachbarn erhalten können, aber nicht genug Nahrungsmittel haben, um ihre Kinder am Leben zu erhalten.
Heute leben die ökonomisch begünstigten Länder insgesamt friedlich zusammen. Es sind in erster Linie die armen Länder, die an internen und internationalen Konflikten beteiligt sind. Moderne Industrie, Kommunikation, Reisen, Kultur und Unterhaltung führen sämtlich zu engeren Beziehungen zwischen den begünstigten Ländern. Aus diesem Grund ist die moderne Wirtschaft ihrem Wesen nach nationenübergreifend. Früher galt der Kapitalismus als die Quelle internationaler Konkurrenz und Konflikte; der Kapitalist galt als Vater des Krieges. Jetzt sind es die Armen dieser Welt, die übereinander herfallen.
Dann sind da die Länder, die aus dem Kommunismus hervorgegangen sind. Auch hier herrscht Unordnung, die manchmal in ökonomisches Chaos übergeht. In den vergangenen drei Jahren sind die begünstigten Länder freigebig mit Ratschlägen umgegangen, die wir selbst kaum befolgen würden. Substantiellere Hilfe ist dringend erforderlich, und das vor allem in unserem eigenen Interesse.
Wir wollen uns nicht in Zufriedenheit über das Erreichte zurücklehnen. Wir wollen das Ausmaß der verbleibenden Aufgabe erkennen und uns daranmachen, sie zu bewältigen.
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