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Das existenzielle Gespräch Die Mauern müssen weg

Hannah hasst die Welt, Anna liebt die Welt. Warum? Hartmut Rosa über gestörte Weltbeziehungen und die AfD.

Mauern überwinden und mit der Welt in Beziehung treten. – Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum großen Glück Bild: AP

zeozwei: In Ihrem Buch Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung beschreiben Sie zwei Musterfrauen, die identische Lebensverhältnisse haben. Gesundheit, Geld, Beruf, Mann, Kinder, Fitness, alles gleich. Anna ist grundsätzlich gut drauf, Hannah grundsätzlich schlecht. Was wollen Sie damit klarmachen, Herr Professor Rosa?

Hartmut Rosa: Es liegt eben nicht an Ressourcen, am falschen Job oder an der falschen Beziehung. Es gibt Menschen, die immer schlecht drauf sind. Erst jammern sie, weil sie allein sind, dann weil sie den falschen Partner haben, dann weil sie keine Kinder haben, dann weil sie Kinder haben. Das hat mich zu der Überlegung gebracht, dass dahinter ein Weltbeziehungsproblem stehen muss.

Anna strahlt schon, wenn sie morgens ihre Kinder und ihren Mann sieht.

Augen sind Resonanzfenster. Wenn die Kinder oder der Mann morgens ins Zimmer kommen, dann kann man an den Augen sehen, wie sich die Beziehung verhält. Das ist keine Esoterik, das ist empirische Realität. Das heißt nicht, dass jemand immer gut drauf ist. In einer Welt, die von Flüchtlingskrisen und Donald Trump heimgesucht wird, wäre das mindestens ein ideologisch verblendeter, wenn nicht ein schlechter Mensch. Die entscheidende Frage für mich ist: Welche der beiden Frauen würde sich politisch engagieren, wer würde Sensibilität für Umwelt- und Flüchtlingsfragen entwickeln? Ich würde sagen, das setzt Resonanzfähigkeit voraus, den Modus des antwortenden In-Beziehung-Tretens.

Resonanz ist für Sie zentral für ein gelingendes Leben von Mensch und Gesellschaft. Was ist das genau?

Resonanz ist eine spezifische Form der Beziehung zur Welt. Sie umfasst zwei Bewegungen: Einerseits lassen wir uns, wenn wir in Resonanz sind, von der Welt, das heißt von Menschen oder von Ideen, Orten oder Dingen berühren und bewegen. Andererseits erfahren wir uns auch als selbstwirksam, das heißt, wir fühlen uns auch in der Lage, andere beziehungsweise etwas in der Welt zu bewegen und zu erreichen.

Was macht diese Beziehung aus?

Resonanz lässt sich auch so beschreiben: Ich spreche zur Welt und die Welt spricht zu mir, beide sind in Schwingung und dadurch verändere ich mich und die Welt verändert sich auch.

Mit Esoterik hat das nichts zu tun?

Nein. Resonanz ist weder Esoterik noch ein emotionaler Zustand, sondern eine Form der Beziehung zwischen Subjekt und Welt.

Was ist das Problem der Frau, die alles negativ sieht?

Sie hat das Gefühl, dass die Welt nicht zu ihr spricht, sie gleichsam nicht „meint“. Ihre Weltbeziehung ist resonanzfrei, stumm und kalt, sie erlebt die Welt als Belastung und Bedrohung.

Das ist verbreitet: Mittelschichtsleben, Familie, okayer Beruf, es läuft, eigentlich, aber trotzdem bin ich unentspannt, gestresst, dauerfrustriert. Wie kommt man da weiter?

Die Frage habe ich mir auch gestellt und war auch ein bisschen verzweifelt, bis ich auf den Philosophen Hans Blumenberg gekommen bin. Blumenberg sagt: Man muss einen Schritt zurückgehen und sich fragen: Was war es denn, was ich mir versprochen hatte? Was war denn das Versprechen der Moderne?

Was ist es?

Meine tiefste Einsicht lautet: Es geht nicht darum, was wir steuern, kontrollieren, als Nächstes verfügbar machen. Das ist Weltreichweitenvergrößerung durch zusätzliche Kontakte, Reisen, Produkte oder in der herrschenden politischen Logik die Entscheidung für die nächste Reform. Darum geht es nicht.

Was war also das Versprechen?

Meine Antwort lautet: Es war ein Resonanzversprechen. Eine andere Art des In-der-Welt-Seins. Also müssen wir uns fragen: Wo liegt meine Möglichkeit der Selbstwirksamkeitserfahrung? Da stellen wir fest: Wir können bei uns selber anfangen, wenn wir im Alltag beispielsweise vor der Frage stehen: Etabliere ich eine Resonanzachse oder erhalte ich sie, indem ich Freunde treffe – oder vergrößere ich meine Weltreichweite und mache lieber einen neuen Kontakt für etwaigen Nutzen? Wir stehen jeden Tag vor diesen Entscheidungen: Resonanzachse oder Weltreichweitenvergrößerung?

Die klassische Reaktion ist der Versuch, immer mehr Welt zu erobern, um dort zu finden, was mir fehlt. Mehr Bekannte, mehr Reisen, mehr Arbeit. Dadurch wird es nicht besser.

Richtig. Das Grundprogramm der Moderne, die permanente Vergrößerung der Weltreichweite, hat nicht nur zu ökologischen und anderen Problemen geführt, sondern auch zu Weltverlust. Aber da wir das nicht im Blick haben, erzeugt es Panik, wenn jemand sagt: Du solltest deine Weltreichweite kleiner machen. Weil wir denken: Die Welt spricht eh schon nicht zu mir und jetzt soll ich auch noch Teile aufgeben? Es ist ein großes Missverständnis, zu denken, ich plädierte für Entschleunigung, für Schrumpfen und Verzichten.

Sie gelten als Entschleunigungsguru.

Ich dachte anfangs, ich sei selbst schuld, dass ich plötzlich nur noch Entschleunigungspapst oder so genannt wurde. Dabei habe ich das Wort nie prominent benutzt. Inzwischen glaube ich, es ist ein systematisches Problem.

Was ist das Problem?

Das Denken in Dichotomien.

Also: Entweder – oder?

Also: Wenn Rosa gegen Beschleunigung ist, dann muss er für Langsamkeit sein. Die gleiche Logik liegt dem „Weniger ist mehr“ zugrunde. Wir müssen Verzicht lernen, uns einschränken.

Es geht gar nicht darum?

Nein. Die Lösung ist nicht schneller oder langsamer, sondern anders. Kein Mensch will eine langsame Internetverbindung oder eine langsame Feuerwehr. Oder eine langsame Achterbahn. Die würde abstürzen. Ich plädiere für eine Idee, die hinter dem Schrumpfen liegt – eine andere Art des In-die-Welt-gestellt-Seins. Mit der Überzeugung, dass dann das Dauerprogramm nicht mehr nötig wäre. Meine Idee ist nicht, dass man nur fünfzig Sachen haben darf, sondern dass man eine andere Beziehung zu diesen fünfzig Sachen haben kann.

Also ist weniger doch mehr?

Nein, denn diese Art zu denken, verkennt das Hauptproblem dieser Gesellschaft. Die Hintergrundidee des Weniger-Denkens ist, dass uns die Gier treibt. Es ist aber gar nicht die Gier. Es ist die Logik dynamischer Stabilisierung. Wir brauchen Wachstum und Beschleunigung, weil wir sonst zurückrutschen, abgehängt werden. Und daran sieht man, dass das Hauptproblem nicht Schrumpfen ist, sondern die Frage, wie ich aus dem Steigerungszwang herauskomme.

Bisschen einschränken, bisschen mehr an die anderen denken?

Wieder falsch. Ich meine nicht die moralische Forderung, an die anderen statt an sich zu denken. Mit dem Wohlergehen anderer verbunden zu sein, sich für andere oder anderes zu entäußern, ist die Voraussetzung für das eigene Glück. Meine These ist, dass Leben gar nicht gelingen kann, wenn ich möglichst frei und ungebunden bin. Die glückliche Musterfrau Anna denkt an die anderen nicht, weil sie es als moralische Pflicht versteht. Die Quelle ihres Glücks ist die Fähigkeit, sich von anderen erreichen und bewegen zu lassen.

Sie sagten, wir unterliegen alle dem kapitalistischen Steigerungszwang. Ist also doch der Kapitalismus schuld?

Der Kapitalismus ist das Paradebeispiel für den Zwang zur Steigerung, um das System zu erhalten und zu stabilisieren. Geld kommt nur in Bewegung, wenn es eine Aussicht auf Steigerung des eingesetzten Kapitals gibt. Damit kommt ein Steigerungszwang ins Spiel, der zu Beschleunigung, Wachstum und Innovationsverdichtung zwingt und dazu führt, dass die Welthaltung zum Aggressionspunkt wird, weil es darum geht, mehr Welt in Reichweite und unter Kontrolle zu bringen. Das ist eine Haltung, die resonanzfeindlich ist und weit über die Wirtschaft hinausgeht.

Wie ist dieses System im Individuum drin?

Über die Sehnsucht nach Reichweitenvergrößerung und über die Angst. Es gibt das Gefühl, dass es cool ist, jetzt hier in Paris zu sein. Und es gibt die Angst vor dem, was passiert, wenn ich nicht meine Reichweite mit einer Gastprofessur in Paris vergrößere und aus meinem beruflichen oder sozialen Status rausfalle.

Sie sprechen von einer dynamischen Stabilisierung, was ist das?

Wir leben in rasendem Stillstand. Wenn ich nicht schneller aufwärts laufe, dann befördert mich die herunterfahrende Rolltreppe nach unten. Der Abgrund der Rolltreppe ist der soziale Tod. Der Motor, mit dem das alles aus systemischen Zwängen in individuelle Orientierungen übersetzt wird, ist das Wettbewerbsprinzip auf allen Achsen.

Wie haben Sie selbst sich von dem Druck befreit?

Gar nicht. Ich hetze auch von Tagung zu Tagung und bekomme dabei kaum noch Resonanzen. In einer Welt, die auf Reichweitenvergrößerung angelegt ist oder, mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu gesprochen, auf Kapitalakkumulation, ist es gefährlich und schädlich zu sagen: Ich fahre da nicht mehr hin, ich mache nicht noch mehr Kontakte, ich versuche nicht, noch mehr Welt zu kontrollieren. Wir kommen aus dem Dilemma nur, wenn wir die Logik des Ganzen ändern.

Eine andere Reaktion besteht darin, zentrale Verbindungen zu kappen, weil man sich davon Befreiung erhofft.

Ja, Leute sagen, sie fühlen sich gefesselt. Sie denken, sie müssen sich von etwas befreien, vom Job, von Freunden, Eltern oder im schlimmsten Fall von den eigenen Kindern. Das kann ja sein, dass etwas eine Quelle der Entfremdung ist. Aber für das Gelingen eines Lebens gehört es dazu, dass ich überhaupt eine andere Stimme da draußen höre. Darum geht es.

Was ist mit einer Trennung in funktionale Jobseite und resonanzorientiertes Privatleben?

Resonanz ist eine wechselseitige Beziehung mit der Welt. Wenn ich versuche, eine private Gegensphäre zum steigerungsorientierten Berufsleben zu schaffen, meine Insel, dann verfehle ich in beidem ein gelingendes Resonanzverhältnis. Im Job habe ich eine verdinglichte, an Effizienz und Optimierung orientierte Welthaltung, in der ich mich nicht bewegen und berühren lassen kann und will. Und in der Resonanzoase versuche ich zwar ganz offen zu sein, doch entfalte ich keine Selbstwirksamkeit. Die Frage ist also, wie ich die beruflichen und privaten Alltagspraktiken so gestalten kann, dass sie resonant werden, dass beide Seiten des Resonanzverhältnisses gleichermaßen im Spiel sind.

Das andere Leben mit Resonanz wird auch gern auf den Urlaub projiziert.

Aber dann muss auch wieder viel Welt erreichbar sein. Strand, Fitness, Sehenswürdigkeiten, Unterhaltung und was weiß ich, was. Oder Rente. Wir sagen: Dann bauen wir das Häuschen im Grünen. Eigentlich leben wir immer von der Idee, dass wir irgendwann diese Resonanzbeziehung schaffen, und weil es uns dämmert, dass wir in einem Modus leben, der uns das nicht ermöglicht, müssen wir immer weiter laufen.

Wie verhält sich unser radikaler Individualismus zum Resonanzproblem?

Resonanz ist eine zweiwertige Beziehung, die auf beiden Seiten scheitern kann. Auf der Seite der Subjekte setzt sie voraus, dass sie resonanzfähig sind und frei schwingen können. Das negative Bild dazu ist, dass man eine Saite festhält. Wenn ich Frauen verbiete, einem Beruf nachzugehen, wenn ich bestimmte Religionen oder sexuelle Orientierung nicht frei schwingen lasse, dann ist Resonanz im Keim erstickt. Der Individualismus und das Autonomiestreben sind daher fundiert in der wachsenden Sensibilisierung für individuelle Resonanzverhältnisse.

Aber?

Das Problem ist, dass man übersehen oder vergessen hat, dass zur Ausbildung von Resonanzachsen auch eine Weltachse gehört. Durch die Hyperindividualisierung sind wir überhaupt nicht mehr in der Lage, da draußen etwas zu sehen, was ohne uns und von sich aus wichtig ist, sodass es zu uns sprechen und uns berühren kann.

Seit der Aufklärung und besonders seit 1968 jagen wir der individuellen Freiheit hinterher.

Ja, mit guten Gründen. Aber reine Freiheit, etwa die eines Superdiktators, macht nicht glücklich, weil zum Glück gehört, sich auch von anderen und anderem überwältigen zu lassen.

Überwältigen?

Ja. Durch Liebe, durch Musik, durch Aufgaben. Durch Momente der Bedeutung. Es gibt zum Beispiel junge Menschen, die erzählen, wie sie als Besucher an der Rampe von Birkenau standen und sich ihr Leben dadurch verändert habe.

Das glauben Sie?

Ja, solche Momente sind entscheidend, und das sind eben keine Momente vollkommener Autonomie.

In Europa haben derzeit immer mehr Menschen das Gefühl, von einer feindlichen Welt bedroht zu werden.

Ja, das ist eine frappante Fehldeutung, dass die eigene Entfremdung auf den Fremden projiziert wird. Ein AfD-Spruch lautet: „Das ist nicht meine Welt.“ Da kann man nur sagen: Genau. Die Welt ist nicht anverwandelt. Aber die Ursache sind nicht die drei Schwarzen, die über den Marktplatz gehen.

Und die nicht so „deutsch“ sind wie sie?

Es ist falsch zu fragen: Was ist deutsch? Die Hoffnung besteht darin, resonante Weltbeziehungen zu anderen und anderem zu haben. Das bedeutet, ein Anderes zu hören, darauf zu antworten und sich daraufhin zu verwandeln in Richtung eines Gemeinsamen. Zu sagen, wer zu uns kommt, soll gefälligst die deutschen Werte annehmen, ist die Fortschreibung der Verhärtung. Es bedeutet, dass man null Resonanz gegenüber dem Fremden aufbringt. Dass man am liebsten eine Mauer bauen würde. Die Menschen leiden unter Weltverlust, den sie durch das Mauerbauen verstärken. Die Idee ist ja, wenigstens eine kleine Welt unter Kontrolle zu bringen und verfügbar machen. Aber genau dadurch verliert man die Welt, das müssen wir erkennen.

Klingt wie eine Bilanz von Erich Honeckers DDR. Und die Westdeutschen sind Superchecker?

Nein, das will ich nicht sagen, das weise ich zurück. Das Problem ist: Die Provinzen in Europa sterben aus. Ich war gerade in Bulgarien, da ist es besonders schlimm. Aber selbst im Schwarzwald hauen alle ab, die jung sind und ein bisschen Bildung haben. Schulen, Kindergärten, Dorfläden schließen, es bleiben sklerotische, überalterte Gesellschaften. Aber je mehr Veränderung, Jugend, und eigentlich Leben fehlt, desto stärker wird das Gefühl: Zaun hochziehen, Mauer bauen, abschließen. Dabei bräuchten gerade die eine Öffnung für Leben.

Haben Sie einen konkreten Vorschlag?

Es funktioniert nicht zu sagen, ihr müsst jetzt noch zwanzig Flüchtlinge aufnehmen. Dann sagen die: Auch noch! Man muss sagen: Leute, wir wollen die Gegend wieder lebendig machen, wir haben fünf Familien, zwanzig Menschen mit Namen und Gesicht. Wenn ihr es schafft, die aufzunehmen und zu integrieren, dann kann die Infrastruktur auch wieder belebt werden: Kindergarten, Straßen, Schule, Dorfladen. Die Frage ist also nicht: Was ist deutsch? Sondern: Wie entsteht in Dorf und Kleinstadt eine neue Gemeinschaft, die wieder Leben gestalten kann?

Die Geflüchteten müssten sich dann auch verpflichten?

Natürlich wollen die nicht unbedingt auf dem Dorf bleiben, aber es würde gehen. Man müsste die Freizügigkeit für eine Weile aufheben. Wenn man sagt, das ist ein zu großes Grundrecht, dann sagt man den verzweifelten Flüchtlingen an unseren Grenzen auch, wir hätten eine Lösung für euch, aber die ist nicht mit diesem Grundrecht in Einklang zu bringen und deshalb müsst ihr im Mittelmeer ersaufen. Das finde ich zynisch und hoffnungslos.

Ist das konkrete Engagement für Geflüchtete eine Resonanzerfahrung in Ihrem Sinne?

Ja. Ein Teil dieser Willkommenskultur hat tatsächlich auf ein Resonanzbedürfnis geantwortet. Wir wollen das Andere wieder in unser Leben lassen und da erfahren wir es. Ich glaube, dass das Gefühl an den Bahnhöfen gar nicht so anders war als das der Brexit-Leute, die mit Fahnen durch Großbritannien liefen: Wir fühlen uns wieder als politisch handelnde Subjekte.

Wie kommt es, dass die einen Resonanzen anstreben und die anderen Mauern?

Letztlich werden auch Pegida und AfD von einem Resonanzbedürfnis getrieben. Das Problem ist, dass in ihrem Fall das Resonanzbedürfnis auf einer Welterfahrung ruht, in der Welt als grundsätzlich bedrohlich und feindlich verstanden wird.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Schule Resonanzfähigkeit entwickelt, aber auch abtötet.

Fremdenfeindlichkeit korreliert häufig umgekehrt mit Bildung. Je größer die Weltreichweite, desto geringer die Fremdenfeindlichkeit. Die erfolgreichen jungen Frauen entwickeln in der Schule hohe Resonanzfähigkeit, sie erschließen sich Gedichte, spielen Instrumente, singen im Chor. Bildungsgewinner haben Resonanzachsen ausgebaut und sind dadurch eher geneigt, das Fremde als Resonanzgegenüber zu begreifen. Bildungsverlierer ohne Resonanzachsen halten Fremdes schnell für bedrohlich oder es sagt ihnen nichts. Die denken: Das ist doch bestimmt wieder so ein Moslem, der mir gefährlich wird.

Schule macht die einen weltoffen und die anderen fremdenfeindlich?

So nicht. Bei Bourdieu gibt es ja ökonomisches, soziales, kulturelles und Körperkapital. Das wird in Familien eingeübt. Wo es vorhanden ist, wirkt Schule als Kapitalakkumulationsfaktor und Resonanzverstärker. Es ist wie bei Marx auch: Man muss Kapital haben, um es vermehren zu können. Wenn ich aber keines habe, dann habe ich keine Chance.

Wie passt Kinderhaben in Ihr Resonanzmodell?

Das Hauptmotiv gegen eigene Kinder ist nicht Geld, sondern dass Kinder Weltreichweite verringern und zwar massiv. Trotzdem werden Kinder als Glück und Resonanzachse erlebt. Die abstrakte Forderung, dass man an nachfolgende Generationen zu denken habe, ist an sich ja eine tote moralische Forderung, solange ihr keine Resonanzbeziehung zugrunde liegt. Ich sollte eigentlich an die Späteren denken, aber naja. Wenn ich aber an die eigenen Kinder denke, dann fühle ich mich unmittelbar verbunden und „gemeint“, es geht mich unmittelbar etwas an. Dadurch entsteht eine transhistorische Resonanzverbindung.

Das Bedürfnis nach Weltreichweite ist ohne Kinder größer?

Kinder bedeuten zunächst einmal Verkürzung der Weltreichweite. Da kann man nicht mehr einfach mal übers Wochenende irgendwohin fahren. Und trotzdem gewinnen die meisten Eltern etwas, und hier sieht man wie sonst nirgends, dass dem Verlust von Welt der Gewinn eines resonanten Weltausschnittes gegenübersteht.

Eine wegweisende strukturelle politische Lösung ist für Sie das Grundeinkommen. Erklären Sie das bitte.

Status und Anerkennung werden fast komplett über Inklusion in die Erwerbssysteme verteilt. Wenn ich arbeitslos bin, sterbe ich den sozialen Tod und das bedeutet auch den kompletten Resonanzverlust. Damit haben wir eine Art von Todesangst, die von Hartz IV nicht beseitigt, sondern verstärkt wird.

Das Grundeinkommen ...

... geht weit über das Materielle und Ökonomische hinaus, weil es diese Anerkennungsbeziehungen fundamental ändern und diesen sozialen Tod damit bannen kann. Und vielleicht auch etwas freilegen, was derzeit überdeckt wird von kapitalistischen Arbeitsbeziehungen, die in Steigerungslogik und Erlöszwängen eingekästelt sind: die Resonanzqualität von Arbeit.

Dagegen steht der sozialdemokratische Arbeitsethos – wer hart arbeitet, dem soll es gut gehen.

Ich würde sagen, dass diese sozialdemokratische Sicht auf dem Irrtum beruht, dass der Sinn der Arbeit das materielle Einkommen ist. Die Menschen arbeiten nicht oder nicht hauptsächlich für den Broterwerb, allenfalls unter entfremdeten Bedingungen. Für mich ist der Sinn des Arbeitens, eine resonante Weltbeziehung aufzubauen.

Ich habe Sie jetzt so verstanden, dass wir vom Strampeln nach mehr Weltoberfläche zur Vertiefung eines kleinen, aber für uns zentralen Weltausschnittes kommen müssen. Stimmt das und was ist die politische Voraussetzung dafür?

Man kann beispielsweise Flüchtlinge als Bedrohung wahrnehmen, dann baue ich eine Mauer. Oder als Problem, dann baue ich eine sozialstaatliche Lösung. Oder als Anspruch, sich das Fremde anzuverwandeln. Wir können versuchen, institutionelle Ordnungen so umzubauen, dass sie wieder resonanzsensibel werden. Dass wir Hoffnung nicht nur auf Resonanzoasen setzen, sondern versuchen, die von mir beschriebene Zweiteilung unseres Lebens zu überwinden. Die Frage ist doch: Wovon träumst du? Der letzte Satz des Buches lautet: „Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und Antworten.“

Wovon träumen Sie?

So gesehen träume ich von einer Welt als Antwortsphäre, die mir auch wirklich etwas zu sagen hat.

Das Interview führte PETER UNFRIED, Co-Chefredakteur der zeozwei.

Es ist erschienen in zeozwei 4/16. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.