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Das beste aller Lernmittel ist verboten

Spickzettel als Ausdruck schulischer Subkultur: Seit 30 Jahren sammelt ein Nürnberger Lehrer „unerlaubte Hilfsmittel“

NÜRNBERG taz ■ Auf der Rückseite eines kleinen Lineals findet sich ein kompletter Zitronensäurezyklus. Einen Karton von wenig mehr als sieben Quadratzentimetern zieren die Zehn Gebote. Sie sind klein, winzig klein, und die Schüler verbergen sie an den aberwitzigsten Stellen, um in größter Not auf ihr Wissen zugreifen zu können: Spickzettel. Für viele sind Spicker die letzte Rettung – aber sie sind verboten.

Günther Hessenauer ist kein besonderer Scharfmacher. Trotzdem ist der Mathematik- und Religionslehrer der Nürnberger Peter-Vischer-Realschule ganz versessen auf die kleinen Dinger. Manche Schüler übergeben ihm schon mal nach Ende der Prüfung ungebrauchte Spickzettel. Hessenauer steckt die unerlaubten Hilfsmittel dann ein – er sammelt Spicker, aus Leidenschaft, aus kulturhistorischen Gründen.

Heute werden Spicker per PC klein gezoomt

Der 59-Jährige hält Spickzettel genau wie Kritzeleien auf der Schulbank oder kleine Briefchen für wichtige Bestandteile schulischer Subkultur. „Meine Sammlung wäre ein lohnendes Objekt für die Kommunikationswissenschaft“, meint er. „Sie widerspiegelt Lebensgefühl und Zeitgeist der Schülergenerationen.“

Wo früher fein säuberlich mit spitzem Bleifstift Wissen verkleinert wurde, zoomen heute Computer mit kleinsten Schriften oder aber Kopierer mit stufenloser Verkleinerung die Spicker auf Bonsai-Größe. Die Zettelchen und Kärtchen beherbergen dann auf engstem Raum die Geschichte des Habsburger Herrscherhauses. Die Formel für die Volumenberechnung eines Zylinders passt auf einen Spicker. Auch die Definition, wonach eine Parabel eine „kurze Erzählung über Wahrheit“ sei, hat Platz.

Günther Hessenauer ist sich sicher, dass die Spickzettel keinen Schaden anrichten, „von der Schädigung der Augen abgesehen“. Meistens würden sie ja „sowieso nicht benutzt“ – weil sich der Lernstoff schon durch das handschriftliche Komprimieren ins Gedächtnis einpräge. Dennoch ist die Rechtslage für dieses wunderbare Lernmittel eindeutig: „Bedient sich der Schüler bei der Anfertigung einer zu benotenden Arbeit unerlaubter Hilfe (Unterschleif), so wird die Arbeit abgenommen und mit der Note 6 bewertet“, so steht es in den Schulordnungen der Bundesländer. Schon der Versuch ist strafbar. Er gilt als „Bereithaltung nicht zugelassener Hilfsmittel“.

Als Sammler erkennt der Lehrer sofort, was sich abspielt. „Der Schüler ist dann unruhig. Ich merke, dass da irgendetwas nicht in Ordnung ist.“ Also ist Hessenauer wachsam. Und wartet auf den Moment der Benutzung. Nur wenn das Corpus delicti unterm knappen Minirock oder einfach in der Hosentasche verschwindet, hat der Spickzettel-Jäger keine Chance mehr. Jetzt zuzugreifen, sagt er, „das verstieße gegen die Menschenwürde“.

Jungs spicken häufiger als Mädchen, hat der Lehrer in 30 Jahren Sammelleidenschaft herausgefunden. „Vielleicht haben aber Mädchen ein feineres Empfinden für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung?“, fragt er sich. Mädchen seien dagegen im Verfassen von Briefchen während des Unterrichts führend.

Hessenauer interessieren nämlich nicht nur Spickzettel, sondern alle „absichtslosen Kritzeleien“, die Kids heimlich im Unterricht fertigen. Angefangen hatte die Sammelei 1969. Am Ende einer Schulstunde bemerkte Hessenauer, was so alles liegen geblieben war. Auch das ist für ihn Ausdruck einer Subkultur. Die Hälfte der Schüler-Gedanken, so bedauert er, gelten nicht dem Lehrstoff, sondern „unterrichtsfremden Beschäftigungen“. BERND SIEGLER

Eine Ausstellung der Spicker-Sammlung ist bis Ende des Schuljahres (27. Juli) in der Peter-Vischer-Schule zu sehen.

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