Das Verbrechen hat gewonnen

■ Abschied von der letzten Folge von „Miami Vice“, So., ARD, 23.35 Uhr

„Miami Vice“ revolutionierte mit seinen filmischen Qualitäten, seiner ausgefuchsten Farbdramaturgie und dem raffinierten Einsatz von Rock- Musik das Medium Fernsehserie formal und bisher unübertroffen. Inhaltlich war die Serie ebenfalls radikal: Als direkte Opposition der Reagan-Ära ging sie von der Prämisse aus, daß das Verbrechen längst gewonnen hat und daß die Grenzen zwischen illegalem und legalem Kapital, zwischen Wall Street und Medellin- Kartell fließend sind.

In einer Welt, die dank des völlig befreiten Raubtierkapitalismus am Abgrund wandelt, konnten selbst die moralisch gefestigten Vice-Heroen nur noch Symptome bekämpfen. Sonny Crockett, der Kleinstädter mit den Down-to-earth-Tugenden und der intellektuelle Ostküstengroßstädter Ricardo Tubbs erlebten immer aufs neue ihre Frustrationen mit staatlichen Organisationen, von FBI bis CIA, die aus paranoider Machtgier ganz im Sinne der politischen Führung Drogenhändler deckten oder demokratische Strukturen demontierten.

Nach 104 Folgen war in den USA die letzte Klappe gefallen. Das Ende kam auf dem künstlerischen Höhepunkt der Serie, die wie keine andere zeigte, wie erbärmlich doch der american way of life sein kann. Die Metamorphosen der Serie lassen sich besonders gut an den beiden Hauptrollen festmachen: 1984, am Anfang der Serie, war Sonny Crocket noch gut drauf. Er war glücklich verheiratet und liebte seinen Sohn — auch wenn es wegen seines Jobs erheblich in der Ehe kriselte. Aber das Verbrechen schien nicht unüberwindbar und Crockett und Tubbs strahlten Optimismus aus. Dann wurde ihr Chef erschossen und Sonny geschieden. Die Welt erschien nicht mehr ganz so rosig, aber man schaffte es, einem Supergangster wie Calderone das Handwerk zu legen. Aber statt einzelner Supergangster, tauchten immer mehr unkontrollierbare Kleingangster in Miami auf, die proportional zum Anstieg des Drogenkonsums das Geschäft brutalisierten.

Einen ernsthaften Schlag gegen ihren Optimismus erhielten die beiden zu Beginn der 2. Season in der Doppelfolge „Prodigal Son“: Eine blutige Drogenspur führte von Bolivien bis in die Wall Street, wo sich ein anerkannter Banker als unangreifbarer Drahtzieher entpuppte. Von nun an wurde es immer düsterer in der Serie und auch im Team der Vice Squad, das so etwas wie eine moralische Insel innerhalb einer tobsüchtigen, gierigen Welt darstellte. Erst scheiterte Sonnys Beziehung mit Kollegin Trudy, dann wurde Polizist Zito von Gangstern umgelegt.

In der 4. Season schien für Crocket das Glück zu lachen: Er verliebte sich in den Pop-Star Katelin (Sheenah Easton) und heiratete. Der Versuch, Sonnys schmutzige Welt der Straße und den Glamour des showbizz harmonisch zu vereinbaren, mußte scheitern. Es gab die erwarteten Spannungen, wenn Sonny von einem Einsatz kam und den Schmutz der Straße in die wohlige Glamourhöhle seiner Frau schleppte. Aber bevor sie sich endgültig trennen konnten, ermordeten Gangster Mrs. Crockett — um Sonny zu treffen. Davon erholte sich der Junge nie mehr. Zu allem Überfluß verlor er bei einer Explosion auch noch das Gedächtnis. Nun brach der ganze Wahnsinn seiner Doppelexistenz als Polizist und Undercoveragent durch: Crockett hielt sich für Burnett, sein Alter ego als Drogenhändler. Mit Blitzgeschwindigkeit stieg er in der Hierarchie der Drogenhändler auf. Einmal versuchte er sogar, Tubbs zu töten; davon sollte sich ihre Freundschaft niemals restlos erholen. Auch nach Sonnys Heilung war keine Besserung der allgemeinen Situation festzustellen.

Miami als Mikrokosmos der Gesellschaft sah immer mehr wie der Vorhof zur Hölle aus, in der brave Bürger ohne Unrechtsbewußtsein kriminelle Deals durchzogen, Psychopathen Amok liefen, Mütter ihre Töchter für Drogen verkauften und machtgeile Politiker nur ihrer Wiederwahl sich verpflichtet fühlten. Jeder Zuschauer wußte es: Das Verbrechen hat gewonnen. Und die immer depressiver werdenden Vice- Cops wußten auch, daß sie sich gegen eine Flut stämmten, die längst über das Land hereingebrochen war. Wie ein blonder Gerechtigkeitszombie raste Crockett durch Glitzerfassaden und blutbesudelte Slumstraßen, ohne noch an die Wirkung seiner Arbeit zu glauben. Und auch der kultivierte Tubbs brach langsam zusammen.

Ihr Traum von einer besseren Welt ist ausgeträumt. Der Ausstieg aus dem Sittendezernat wird vielleicht ihr Seelenheil zurückbringen. Sie kämpfen nicht länger gegen einen kollabierenden Planeten, der in den Abgrund torkelt. Die Fans der Serie bedauern das Ende, denn nach „Miami Vice“ ist im Fernsehen nichts mehr so, wie es mal war. Martin Compart