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Das Stigma zurückweisen

Der diesjährige Weltgesundheitstag steht unter dem Motto: „Psychische Gesundheit erhalten & wiederherstellen“. Ein Schwerpunkt heißt „Anti Stigma“. Das Ziel: Vorurteile überwinden – bei Patienten wie der Umwelt

Mit seiner „Anti Stigma“-Kampagne startete der Weltverband Psychiatrie „Open the doors“ im vergangenen Sommer bundesweit eine Reihe von Vorträgen, Veranstaltungen und Projekten. Ziel ist, der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen durch Aufklärung der Öffentlichkeit entgegenzutreten. Im Rahmen der Veranstaltungen zum Weltgesundheitstag besteht heute im Kölner Gürzenich auch für Laien die Möglichkeit, sich im Themenpark „Behandlung psychischer Erkrankungen“ bei den Ständen des Vereins „Open the doors“, des „Kompetenznetzes Schizophrenie“ oder der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Hamburgs über deren Antistigmaarbeit zu informieren.

Einen Klassiker zum Thema schrieb der US-Soziologe Erving Goffman. Sein Buch „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ erschien bereits 1964 (Frankfurt am Main 1999: Suhrkamp, 180 Seiten, 18 Mark). „Die Griechen“, schreibt der Autor, „schufen den Begriff des Stigma als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper eingeschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, dass der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder Verräter war – eine gebrandmarkte, rituell für unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte, vor allem auf öffentlichen Plätzen.“

Nach Goffman können „körperliche Abscheulichkeiten“ zum Stigma werden, ebenso wie Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Sucht, Homosexualität, Arbeitslosigkeit, Selbstmordversuche und radikale politische Positionen, die von der Allgemeinheit als individuelle Charakterschwächen wahrgenommen werden, sowie schließlich die Zugehörigkeit zu einer Ethnie und Religion.

Alle Beispiele haben die gleichen soziologischen Merkmale. Die Betroffenen besitzen eine Eigenschaft, die in den Augen der Gesellschaft unter keiner Bedingung hingenommen werden kann und die dazu führt, dass alle ihre sonstigen schätzenswerten Eigenschaften als nichtig betrachtet werden. Im Grunde seien wir, so Goffman, überzeugt, dass Personen mit einem Stigma „nicht ganz menschlich“ sind. Deshalb würden sie diskriminiert und ihre Lebenschancen „wirksam, wenn auch oft gedankenlos“ reduziert. Alle Stigmatisierten machen eine ähnliche Erfahrung. Das Stigma wird zum Teil ihrer Biografie. Er trägt zu ihrer Identitätsbildung bei und führt laut Goffman zu einer „beschädigten Identität“.

Den Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und gesellschaftlicher Stigmatisierung analysiert Asmus Finzen in seinem soeben erschienenen Buch „Psychose und Stigma“ (Bonn, Psychiatrie-Verlag, 200 Seiten, 24,80 Mark). Der Baseler Psychiater weist auf die unterschiedliche Tragweite der Begriffe „Vorurteil“, „Diskriminierung“ und „Stigmatisierung“ hin: „Vorurteile haben wir alle. Wir brauchen sie, um uns ohne ständiges Nachdenken im Alltag zurechtzufinden. Diskriminierung ist aktives Handeln aufgrund von Vorurteilen, die den Diskriminierten nicht gerecht werden, die ihm Unrecht tun. Stigmatisierung ist das, was Diskriminierung und Vorurteile bei den Betroffenen bewirken. Sie verletzen sie. Sie beschädigen ihre Identität, sie treffen sie im Innersten. Stigma ist somit jenseits aller sozialen Bewertungen eine tief greifende Verletzung, die der Behandlung, der Bewältigung bedarf.“

Mit vielen Beispielen („schizophrene Drogenpolitik“, „finanzpolitische Schizophrenie“) verdeutlicht Finzen die Rolle der Medien etwa bei der Konstituierung eines banalisierenden Schizophreniebegriffes. „Schizophrenie ist nicht nur eine Krankheitsbezeichnung. Schizophrenie ist, wie Krebs und Aids und früher die Tuberkolose, zugleich eine Metapher. Der Begriff steht für alles mögliche andere; und nichts davon ist gut. Das Wort Schizophrenie wird somit eine Metapher der Diffamierung.“ Finzens Buch ist eine kompetente, differenzierte und gleichwohl gut verständliche Untersuchung zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion von Stigmata, denen die einzelnen Betroffenen nicht ausweichen, denen sie sich nur stellen können.

Der Kampf gegen Stigmatisierungen ist nicht nur in der Therapiearbeit ein langwieriger Prozess. „Antistigmakampagnen haben einen Anflug von Größenwahn‘‘, sagte Finzen in einem Interview mit Psychiatrie Aktuell. „Genau genommen treten sie an, um die Gesellschaft beziehungsweise deren Grundüberzeugungen zu verändern; und das ist, wie wir als Fossile der Achtundsechzigerbewegung mittlerweile wissen, gar nicht so einfach.“ Seinen eigenen Schwerpunkt setzt Finzen deshalb vor allem auf konkrete Hilfestellungen für die unmittelbar Betroffenen. Erst wenn Kranke und Angehörige die sozialen Mechanismen von ungerechtfertigten Schuldzuweisungen und Diffamierungen begreifen, seien sie imstande, das Stigma zurückzuweisen und zu bewältigen.

In Kürze erscheint als Gemeinschaftsproduktion des Medienzentrums Rheinland und des Psychiatrieverlags Bonn ein Hörbuch mit Texten aus dem Band „Wenn die Seele überläuft“. Die Einleitung spricht Campino, Sänger der „Toten Hosen“

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