Das Sportjahrzehnt - Teil 2: Ein Heer von Experten

Weil staatliche Ermittler Doping ernst nehmen, wird in den Nullerjahren heftig Aufklärung betrieben. Und aus durchschnittlich interessierten Sportfans wurden Dopingexperten.

Ein Jahrzehnt der Dopingaufklärung endet. Bild: ap

In dieser Dekade passierte Erstaunliches: Aus durchschnittlich interessierten Sportfans wurden Dopingexperten. Am Stammtisch, in der Familienrunde oder im Sportverein weiß man sich recht versiert über Blutwerte zu unterhalten. Zungenbrecher wie Erythropoetin (Epo), Hämatokritwert oder Retikoluzyten kommen fast unfallfrei über die Lippen. Eine Unterhaltung über den neuesten Dopingfall gehört heute dazu wie Spekulationen übers Wetter der kommenden Tage. Doping ist mitten in der Gesellschaft angekommen.

Man weiß viel, sehr viel. Vor allem weiß man viel mehr als noch vor zehn Jahren und bedeutend mehr als vor zwanzig Jahren. Der Leser darf sich in diesem Jahrzehnt der forcierten Dopingaufklärung als Experte fühlen: als Sportmediziner, Pharmakologe, Hämatologe, Internist, Jurist oder Biochemiker. Manchmal wird der Laie auch zum Doper in eigener Mission, ja, auch das soll vorkommen. Sogar Ignoranten des Sportgeschehens kennen mittlerweile den internationalen Sportgerichtshof Cas, die weltweit agierende Anti-Doping-Agentur Wada, und besonders spitzfindige Leser können sogar erklären, was es mit der Beweislastumkehr im Sportgericht auf sich hat und was ein Chaperon bei der Tour de France macht.

Auf die Überdosis Doping reagiert so mancher Sportfreund mit Verdruss, wünscht sich die seligen Tage des Unwissens zurück oder plädiert in einer Überreaktion gar für die Dopingfreigabe. Manche träumen sich auch in die Vergangenheit zurück: Als sich die politischen Blöcke noch starr gegenüberstanden und Medaillensammeln ein patriotischer Akt war, da wurden die Dopingakten penibel unter Verschluss gehalten. Das änderte freilich nichts an der Tatsache, dass hie wie da ordentlich gedopt wurde. Doping war ein staatlich initiierter respektive geduldeter Akt. Wer nicht involviert war ins Geschehen, der konnte allerdings nur erahnen, was hinter dem Eisernen Vorhang der Sportsysteme so alles vor sich ging, wie Muskeln aufgebläht und zum Teil minderjährige Sportler zu Pharma-Mutanten wurden. Der Westen hatte 1987 den Fall Birgit Dressel, der Schlimmes erahnen ließ, der Osten hatte bis zum Mauerfall weiterhin nur ein recht gut gehütetes Geheimnis - und ein Millionenheer von Skeptikern und Ahnungsvollen.

In den Neunzigern wurde in den Prozessen gegen DDR-Dopingärzte und Dopingtrainer klar, wie allumfassend das pharmakologische Treiben in den Trainingszentren war. Die frühe Phase der Dopingaufklärung hatte begonnen. Freilich tat man so, als sei die Athletenmast nur ein Problem der DDR gewesen. Nach den Prozessen hielt man das Doping mancherorts für erledigt und eingedämmt. Aktuelle Meldungen wurden geflissentlich ignoriert: Dass allerhand Ausdauersportler, vor allem Radfahrer, an Blutverklumpung durch Epo-Doping krepierten, diese Info erreichte kaum einen Sesselsportler. Warum auch? Sollte doch der deutsche Sportheld der Neunziger, Jan Ullrich, mit dickem Epo-Blut die Berge der Alpen hochstürmen, als sitze er auf einem Moped.

In den Neunzigern funktionierten sie also noch, die Selbsterhaltungsmechanismen des Dopingkomplexes, doch in den Nullerjahren des neuen Jahrhunderts ließ sich das System der Vertuschung nicht mehr so einfach aufrechterhalten. Das lag vor allem an staatlichen Ermittlungen. Der Staat pflegte zum Doping nicht mehr ein Verhältnis wie ein Mentor zum Protegé, Polizei und Zoll mischten die Szene vielmehr auf. Das klappte besonders gut in Frankreich und Italien, in Deutschland nicht so sehr. Die Ermittlungserfolge, vor allem im Radsport bei der Tour de France und dem Giro dItalia, veränderten Sichtweisen. Aus Ahnungen wurden damals Gewissheiten, aus diffusen Unterstellungen harte Fakten. Die Erkenntnis hämmerte sich den Sportfans geradezu ins Hirn: Im Hochleistungssport ist Doping kein ephemeres Phänomen, nein, es ist immer schon da (gewesen), wenn es mal wieder um Podestplätze bei einer EM, WM oder Olympia geht.

Nur die merkwürdige Trennung zwischen Sportgerichten und Strafgerichten erschwert die Aufklärung bis heute. Die sogenannte "Autonomie des Sports" kommt einer Erlaubnis zur Strafvereitelung gleich. Doch trotz dieser Barriere weiß der Leser jetzt so viel mehr über Dopingpraktiken, zum Beispiel dass sich Sportler Fremdurin in die eigene Blase spritzten, damit die Dopingprobe keine verbotenen Substanzen enthält, dass Schwerathleten, ausgerüstet mit einem Plastikpenis, versuchten, die Dopingfahnder zu foppen, dass der spanische Frauenarzt Eufemiano Fuentes ein reges Geschäft mit Blutkonserven betrieb und dass auch alle künftigen Sportveranstaltungen kritisch zu beäugen sind.

Ein Jahrzehnt der Dopingaufklärung endet. Ein neues beginnt.

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