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Das Schweigen der Hirsche

■ Brunftzeit im Herbstwald: Im Gehege in Hermsdorf zeigt der Zwölfender sein wahres Gesicht / Zwanzig Kilo Körpergewicht werden bisweilen der Liebe geopfert

Noch spaziert er friedlich mit seinem Harem durch den Wald, beguckt hier mal ein Gräschen, zertritt dort mal eine Eichel und sieht bei all dem so aus, als könne er keiner Fliege etwas zu leide tun. Aber es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis er sein wahres Gesicht zeigt: Dann stampft er mit den Läufen auf, rollt wütend mit den Lichtern, legt sein mächtiges Geweih in den Nacken und stößt einen Schrei aus, der das Blut in den Adern gefrieren läßt.

Doch just gerade will er aus unerfindlichen Gründen nicht. Dabei könnten die Bedingungen kaum besser sein. Das rote Buchenlaub leuchtet im Herbstlicht, in den Baumstämmen klopfen die Spechte. Aber sein Herr und Meister, der Revierförster von Tegel- Nord, Klaus Hamer, rät zur Geduld: Es könne jeden Moment soweit sein, gestern vormittag um dieselbe Zeit habe er es schließlich auch getan. Er, das ist ein kapitaler Zwölfender, der Platzhirsch eines elfköpfigen Rotwild-Rudels, das am Waldrand von Hermsdorf in einem großen Gehege lebt.

Mitten im Herbst hat die Brunftzeit ihren Höhepunkt erreicht. Im Gegensatz zu ihren Artgenossen in freier Wildbahn buhlen die Hirsche in Gefangenschaft manchmal von morgens bis abends um die Weiber. Mit einem lauten tiefen Schrei, der Revierförster Hamer an das Brüllen eines Löwen erinnert, locken sie ihre Nebenbuhler aus dem Dickicht. Dann schlagen die Gegner mit laut krachendem Geweih aufeinander ein, stoßen sich mit den ineinander verhakten Stangen so lange hin und her, bis der Kampf entschieden ist. In Gefangenschaft, so Förster Hamer, sind dies nur Turnierkämpfe, denn wer der Platzhirsch ist, steht dort schon vor der Brunftzeit fest. In freier Natur kommt es bisweilen vor, daß der Unterlegene mit tödlichen Verletzungen von dannen zieht. Der Schrei ist – typisch Mann – nur Gehabe. Die Show dient noch nicht mal dazu, die Damen zu beeindrucken, denn vor und während der sekundenschnellen Begattung schreit der Hirsch nicht. „Eigentlich könnte er auch 's Maul halten und sich leise mit dem Rudel in die Büsche schlagen“, stellt Förster Hamer fest. „Statt dessen lockt er seine Rivalen mit dem Schrei erst an.“ Bei den Männern geht es eben um Kraft und nicht um Intelligenz. Das Machogehabe führt so weit, daß sie während der mehrwöchigen Brunftzeit nichts fressen und dabei bis zu 20 Kilo abnehmen.

Rotwild ist in Berlin nur in zwei Forstgehegen zu finden. Die Tiere, die viel Raum brauchen, konnten in den begrenzten Stadtforsten nicht heimisch werden. Man braucht jedoch nicht weit zu fahren, um im brandenburgischen Wald einen bis zu 1,50 Meter (Schulterhöhe) großen Rothirsch zu sehen. Doch wehe mensch gerät in seinen Windfang (Jägerlatein für Nase). Dann geben sie mit ihren Schalen (Hufen) Fersengeld und zeigen Kurzwildbret und Weidloch (Hoden und After) nur noch von hinten.

Von prickelnder Erotik ist im Gehege immer noch nichts zu spüren. Im Gegenteil: Der kapitale Zwölfender hat sich zum Mittagsschlaf niedergelegt. Doch es gäbe ein Mittel, den Macho binnen von Sekunden in Wallung zu bringen: indem man durch eine leere Klopapierrolle oder in eine Blechgießkanne bläst. Doch diese Kunst beherrscht Waidmann Hamer leider noch nicht. Plutonia Plarre

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