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Das Rauschen von Genua

Kollektiver Beinahe-Gehörsturz und urhamonische Schwebezustände: Ein Konzert der Bremer Tagung „Musikalische Konfrontationen mit der politischen Gegenwart“

Nein, lauterer Wohlklang war gewiss nicht zu erwarten, als die Bremer „projektgruppe neue musik“ ihre diesjährige Tagung eröffnete. „Musikalische Konfrontationen mit der politischen Gegenwart“ lautete der Titel des dreitägigen Festivals - und damit auch des Abends in St. Stephani.

Politik, das ist selten etwas Liebliches und Angenehmes. Erst recht nicht Politik im Nahen Osten, mit der sich der israelische Komponist Dror Feiler auseinandersetzt. Ob der in Stockholm lebende Tonkünstler und Sharon-Kritiker deshalb gleich die Gehörgänge seines Publikums in Gefahr bringen musste, mag sich manch einer gefragt haben, der während der Aufführung seines 15-minütigen, ohrenbetäubend lauten Werks das Gebäude verließ.

Dabei hatte das Konzert doch so vielversprechend begonnen. Vor dem kollektiven Beinahe-Hörsturz war unter anderem ein Werk von Georg Bönn zu hören. Der wollte sein „Genova VII“ als Reaktion auf den G8-Gipfel von Genua im Jahr 2001 verstanden wissen. Und tatsächlich rief die Tonband-Komposition die Bilder der sich jagenden Polizei- und Demonstrantengruppen ins Bewusstsein, ohne sich jedoch auf die Ebene simpler Lautmalerei zu begeben.

Das Hase- und Igel-Spiel, die große Politik und der große Protest: All das verdichtete sich in Bönns Werk zu einem lauten Rauschen.

Während die einen (Bönn und in übertriebenem Maße auch Feiler) die Wirkung von Politik auf Neue Musik in eine Bewegung fort vom herkömmlichen Klangverständnis münden ließen, besannen sich andere, ganz nach dem Vorbild Alfred Schnittkes, auf Urformen der Harmonik. Klaus Huber, Schöpfer zahlreicher geistlicher Vokalwerke, schuf in seiner Komposition für kleine Besetzung und Countertenor „Ararat“ aus der Oper „Schwarzerde“ ein beeindruckendes Spannungsfeld zwischen totaler Auflösung von Tonalität und neobarocker Motivik.

Die, wie zu Ur-Zeiten eines Heinrich Schütz, im Kirchenraum verteilten Instrumentalisten, spielten frei von jeder metrischen oder harmonischen Bindung. Countertenor Kai Wessel indes interpretierte mit eindrucksvoller stimmlicher Brillanz kurze, an geistliche Musik des Frühbarock, ja sogar an gregorianische Gesänge erinnernde Sequenzen. Ein Schwebezustand zwischen Tradition und Zukunft – Gänsehaut beim Bremer Publikum. BG

Ein Bericht über weitere Konzerte und Diskussionen der Tagung erscheint in der morgigen Ausgabe

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