Das Potenzial der Occupy-Bewegung: Ohnmächtig, aber legitim
Plötzlich heißt der Kapitalismus wieder Kapitalismus. Und er steht in der Kritik. Welches Potenzial steckt darin? Die Occupy-Bewegung in der Finanzrisikogesellschaft.
Wie ist es möglich, dass ein heißer amerikanischer Herbst nach dem Vorbild des Arabischen Frühlings den Urglauben des Westens, das ökonomische Weltbild des American way zerschlägt? Wie ist es möglich, dass der Ruf "Occupy Wall Street" nicht nur junge Menschen in anderen US-Städten, sondern auch in London und Vancouver, Brüssel und Rom, Frankfurt und Tokio erreicht?
Und die Protestierenden kommen nicht, um nur gegen ein schlechtes Gesetz oder für ein besonderes Anliegen ihre Stimme zu erheben, sondern gegen "das System" selbst. Das, was zuletzt "freie Marktwirtschaft" hieß und jetzt wieder "Kapitalismus", wird auf den Prüfstand gestellt und fundamentaler Kritik unterzogen. Warum ist die Welt plötzlich bereit zuzuhören, wenn "Occupy Wall Street" beansprucht, für die 99 Prozent Überrollten gegen die 1 Prozent Profiteure zu sprechen?
Persönliche Erfahrungen aus jenen 99 Prozent sind auf der Website WeAreThe99Percent zu lesen: Von denen, die in der Immobilienkrise ihre Häuser verloren haben. Von denen, die das neue Prekariat bilden. Von denen, die sich keine Krankenversicherung leisten können. Von denen, die sich verschulden müssen, um studieren zu können. Nicht die "Überflüssigen" (Zygmunt Bauman), nicht die Ausgeschlossenen, nicht das Proletariat, sondern die Mitte der Gesellschaft protestiert auf den öffentlichen Plätzen. Das delegitimiert und destabilisiert "das System".
67, ist einer der bekanntesten deutschen Soziologen der Gegenwart. Bis zum Jahr 2009 lehrte er als Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zudem ist er Gastprofessor für Soziologie an der London School of Economics and Political Science. International bekannt wurde er mit seinen Thesen zur "Risikogesellschaft" (1986). In seinem Buch "Weltrisikogesellschaft - Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit" (Suhrkamp, 2007) diskutiert er unter anderem die Risiken des globalen Finanzkapitalismus.
Sicher, das globale Finanzrisiko ist (noch) keine globale Finanzkatastrophe. Könnte es aber werden. Dieser katastrophische Konjunktiv ist der Ereignistaifun, der in Gestalt der Finanzkrise in die Mitte der gesellschaftlichen Institutionen und des Alltags der Menschen eingebrochen ist; irregulär, nicht auf dem Boden der Verfassung und der Demokratie stehend, explosiv aufgeladen mit uneingestandenem Nichtwissen, bisherige Orientierungskoordinaten wegspülend.
Schicksalsgemeinschaft der 99 Prozent
Zugleich wird dadurch eine Art Schicksalsgemeinschaft der 99 Prozent erlebbar. Anzeichen dafür sind die abrupten Einbrüche in den Finanzkurven, die durch ihre Achterbahnfahrten die Verbundenheit der Welten fühlbar werden lassen. Wenn Griechenland pleite geht, ist das ein neuer Hinweise darauf, dass meine Rente in Deutschland nicht mehr sicher ist? Was heißt überhaupt "Staatspleite"? Für mich?
Dass ausgerechnet hochnäsige Banken klamme Staaten um Hilfe bitten und dass diese Chronisch-leere-Kassen-Staaten im Ruckzuckverfahren den Kathedralen des Kapitalismus astronomische Geldsummen zur Verfügung stellen - wer hätte das gedacht? Heute weiß so etwas jeder. Aber das heißt nicht, dass es irgendjemand versteht.
Der internationale Bankenprotest begann in September mit "Occupy Wall Street", der Besetzung des Zuccotti-Parks in New York. Am weltweiten Aktionstag Mitte Oktober demonstrierten Zehntausende Menschen weltweit gegen die Macht der Finanzmärkte. In Frankfurt zogen 6.000 Demonstranten durch das Bankenviertel und errichteten ein Protestcamp. In Berlin besetzten Aktivisten die Reichstagswiese. An diesem Wochenende wollen die Occupy-Aktivisten wieder demonstrieren, unter anderem in Frankfurt und Berlin.
Diese bis in die Kapillaren des Alltags hinein wirkende Antizipation des globalen Finanzrisikos ist eine der großen Mobilisierungen des 21. Jahrhunderts. Denn diese Art von Bedrohung wird überall lokal als ein kosmopolitisches Ereignis wahrgenommen, das einen existentiellen Kurzschluss zwischen dem eigenen Leben und dem Leben aller herstellt.
Solche Ereignisse kollidieren mit dem begrifflichen und institutionellen Rahmen, in dem wir bislang Gesellschaft und Politik denken, sie stellen diesen Rahmen von innen her infrage, treffen aber zugleich auf sehr unterschiedliche kulturelle, ökonomische und politische Voraussetzungen und Hintergründe; entsprechend differenziert sich der globale Protest lokal.
Neuartige Protestdynamik
Die Finanzströme, keineswegs aber alle Handelsbeziehungen und Produktionsbedingungen der Wirtschaft, sondern nur diese neuen digitalen, in Realzeit um den gesamten Globus kreisenden finanziellen Transaktionen, die ganze Länder emportragen und dann wieder abstürzen lassen können, verweisen exemplarisch auf die neuartige Protestdynamik in der Weltrisikogesellschaft.
Denn die globalisierten Finanzrisiken sind eine Art objektiver Demonstration der Verhältnisse gegen sich selbst. Die Menschen machen unter dem Diktat der Not eine Art Blitzkurs über die Widersprüche des Finanzkapitalismus in der Weltrisikogesellschaft durch. Die Berichterstattung der Massenmedien deckt die radikale Trennung zwischen denjenigen auf, die die Risiken erzeugen und von ihnen profitieren, und denjenigen, die die Folgen ausbaden müssen.
Im Land des Raubtierkapitalismus, den USA, formiert sich eine kapitalismuskritische Bewegung - das ist wieder einmal ein unvorstellbarer Augenblick. Wir sagten "Wahnsinn", als die Berliner Mauer zusammenbrach. Wir sagten "Wahnsinn", als sich am 9. September 2001 die Twin Towers in New York in Staub auflösten. Und wir sagten "Wahnsinn", als mit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers die globale Finanzkrise ausbrach.
Was meint "Wahnsinn"? Zunächst ist da ein kabarettreifes Konvertitentum: Banker und Manager, die Marktfundamentalisten schlechthin, rufen nach dem Staat. Politiker, wie in Deutschland Angela Merkel und Peer Steinbrück, die vor kurzer Zeit noch den ungeregelten Kapitalismus hochleben ließen, vollziehen bei Nacht und Nebel einen Meinungs- und Fahnenwechsel zu einer Art Staatssozialismus für Reiche.
Wir sind Teil eines Großexperiments
Und überall regiert das Nichtwissen. Niemand weiß, was ist und was die im Nullenrausch verordnete Therapie tatsächlich bewirkt. Wir alle - also die 99 Prozent - sind Teil eines ökonomischen Großexperiments, das sich einerseits im fiktiven Raum des mehr oder weniger uneingestandenen Nichtwissens bewegt, weil es etwas zu verhindern gilt, das auf keinen Fall eintreten darf, sowohl was die eingesetzten Mittel als auch die erhofften Ziele betrifft, andererseits aber knallharte Konsequenzen für alle hat.
Man kann verschiedene Formen von Revolution unterscheiden: Staatsstreich, Klassenkampf, ziviler Widerstand und so weiter. Die globalen Finanzgefahren sind all das nicht, aber sie verkörpern politisch explosiv die Irrtümer des gestern noch geltenden neoliberalen Finanzkapitalismus, der mit der Gewalt seines Siegeszugs und der sich damit abzeichnenden Katastrophe deren Einsicht und Korrektur einklagt. Sie sind eine Art kollektive Wiederkehr des Verdrängten: Der neoliberalen Selbstgewissheit werden die eigenen Fehler vorgehalten.
Sicher, ökonomische Krisen sind so alt wie die Märkte selbst, und spätestens seit der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 ist allgemein bekannt, dass finanzielle Zusammenbrüche katastrophale Folgen haben können - gerade in der Politik.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Institutionen des Bretton-Woods-Abkommens waren in diesem Sinne als globale politische Antworten auf globale ökonomische Probleme gedacht, und dass sie funktionierten, war ein wichtiger Schlüssel für die Entstehung des Wohlfahrtsstaats in Europa.
Das kollektive Krisenbewusstsein
Aber seit den Siebzigerjahren und verschärft nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Konkurrenz im Osten sind diese regulierenden Institutionen weitgehend abgebaut und durch sequenzielle Ad-hoc-Lösungen abgelöst worden. Die globalen Finanzrisiken, die weltweit die Lage der Menschen gefährden, erzeugen neuartige "unfreiwillige" Politisierungen. Darin liegt ihr Pfiff – politisch und intellektuell.
Globalität meint: Alle sind von diesen Risiken betroffen, alle halten sich auch für betroffen. Man kann nicht sagen, dass daraus schon ein gemeinschaftliches Handeln entstünde; das wäre ein vorschneller Schluss. Aber es gibt so etwas wie ein Krisenbewusstsein, das sich aus dem Risiko speist und das genau diese Art einer gemeinsamen Gefährdung, eine neue Art von Kollektivschicksal darstellt.
Die Weltrisikogesellschaft – das zeigt der Aufschrei der "99 Prozent" – kann in einem kosmopolitischen Moment einen reflektierten Begriff ihrer selbst gewinnen. Das wird dann möglich, wenn die objektive Demonstration der Verhältnisse gegen sich selbst sich transformieren lässt in ein politisches Engagement, in eine globale Occupy-Bewegung, in der die Überrollten, Frustrierten und Faszinierten, also tendenziell alle, virtuell oder tatsächlich auf die Straße gehen.
Woraus aber entsteht die Macht oder Ohnmacht der Occupy-Bewegung? Dass selbst Börsenhaie sich solidarisch erklären, kann es allein nicht sein. Die globale Finanzgefahr, ihre politischen und gesellschaftlichen Folgen haben dem neoliberalen Kapitalismus die Legitimität entzogen. Die Folge ist: Es gibt eine Asymmetrie von Macht und Legitimität.
Ein Bündnis mit der Politik ist möglich
Große Macht und geringe Legitimität auf der Seite des Kapitals und der Staaten sowie geringe Macht und hohe Legitimität auf der Seite der karnevalistisch Protestierenden. Das ist ein Ungleichgewicht, das die Occupy-Bewegung nutzen könnte, um Kernforderungen – wie zum Beispiel eine globale Finanztransaktionssteuer – im wohlverstandenen Eigeninteresse der Nationalstaaten gegen deren Borniertheit einzuklagen.
Um diese Robin-Hood-Steuer durchzusetzen, entstünde exemplarisch ein legitimes und machtvolles Bündnis zwischen globalen Protestbewegungen und nationalstaatlicher Politik, das den politischen Quantensprung in die transstaatliche Handlungsfähigkeit staatlicher Akteure diesseits und jenseits nationaler Grenzen schaffen könnte. Wenn diese Schlüsselforderung selbst schon von der Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy zumindest als Lippenbekenntnis erhoben wird, dann kann man diesem Ziel sehr wohl eine Chance zur Durchsetzung bescheinigen.
Verallgemeinert gesagt: Im globalen Risikobewusstsein, in der Antizipation der Katastrophe, die es in jedem Fall zu verhindern gilt, tut sich ein neues machtpolitisches Feld auf. Im Bündnis zwischen globalen Protestbewegungen und nationalstaatlicher Politik könnte jetzt langfristig durchgesetzt werden, dass nicht die Wirtschaft die Demokratie, sondern die Demokratie die Wirtschaft dominiert. Diese goldene Gelegenheit könnte die Occupy-Bewegung, die sich nach innen und außen konsensfähige Ziele setzt, greifbarer machen. Dabei ginge es nicht nur um die Kontrolle des Bankensektors, sondern auch um gerechte Steuerpolitik und soziale Sicherheit im transnationalen Rahmen.
Gegen das schnelle "aussichtslos" hilft vielleicht diese Einsicht: Die Hauptgegner der globalen Finanzwirtschaft sind nicht diejenigen, die jetzt weltweit ihre Zelte auf den öffentlichen Plätzen und vor den Bankkathedralen aufbauen, trotz aller Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit. Der überzeugendste und ausdauerndste Gegner der globalen Finanzwirtschaft - ist die globale Finanzwirtschaft selbst.
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