■ Das Portrait: Berthold Otto
Reformpädagogisch für „zwangfreies Wachstum“ Foto: Ullstein
Die Überlegungen des Pädagogen Berthold Otto (1859–1933) sorgten im autoritätsorientierten Wilhelminischen Reich, aber auch später in der Weimarer Republik für Aufregung. Otto ging es darum, in „Plauderstunden“ mit Kindern zu einer allseitigen Bildung im Alltag beizutragen. Er hatte erkannt, daß das Lernen in Alltagssituationen – beispielsweise beim Essen oder Spielen – in vielversprechender Weise entfaltet werden kann, also nicht bloß in Klassenzimmern. Diese Vorstellungen waren den Schulbehörden ein Dorn im Auge. Trotzdem versuchte Otto immer wieder, mit seinem situationsbezogenen pädagogischen Ansatz einen „Gesamtunterricht“ zu erschließen, der zu exemplarischen Lehr- und Lernerfahrungen führt. Alle sollten zu jeder Zeit alles erkunden und diskutieren können.
Vom Preußischen Kultusministerium erhielt er – nachdem er ein populäres Buch über Bismarck veröffentlicht hatte – ein Gehalt, ohne einer Verpflichtung nachkommen zu müssen. Otto gründete daraufhin im Jahre 1902 in Berlin-Lichterfelde seine „Hauslehrerschule“ – und weigerte sich, seine Kinder in die staatlich anerkannten Schulen zu schicken. Denn er fürchtete, daß ihnen dort eine unzeitgemäße Kultur aufgezwungen wird, die der individuellen Entwicklung der Kinder zuwiderläuft. Fortan plädierte er für ein „zwangfreies Wachstum“. Im Streit mit der Schulbehörde gelang es dem Reformpädagogen, die „Königliche Regierung“ dazu zu bewegen, sich seiner pädagogischen Sache anzunehmen. Man gestattete ihm, seine private Unterrichtsanstalt zu leiten, in der er nach seinen Erkenntnissen handeln durfte.
Heute vor sechzig Jahren starb Berthold Otto, seine Überlegungen gerieten in Vergessenheit, zum einen, weil die konservativen Geister der Lehrer und Politiker nicht dazu neigen, einen situationsbezogenen und fächerübergreifenden Lehr- und Lernstoff zu entwickeln, zum anderen, weil Ottos Schriften sich im Jargon der Jahrhundertwende bewegen und zu keiner Ideologiekritik ermutigen, die den „Volksgeist“ in Frage stellt. Trotzdem schaffte es Otto, den Blick für die Sichtweisen der Kinder zu schärfen und zu alternativen Perspektiven schulischen und außerschulischen Lernens zu ermuntern. H.-G. Müller
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