■ Das Portrait: Ben Witter
Es war vor gut drei Jahren, im sechsten Stock des Pressehauses in Hamburg. Nachdem man uns beiden die Teilnahme an einer Redaktionsversammlung der Zeit verwehrt hatte, standen wir zusammen im Flur. Ben Witter bot mir eine seiner starken, filterlosen Zigaretten an. „Ben“, sagte ich zu ihm, „ich dachte, daß Sie seit Jahrzehnten hier Redakteur sind.“ – „Ach nebbich“, antwortete er mit seiner tiefen, rauhen Stimme. „Wir brauchen das doch nicht. Sicherheit, einen Posten; ich war immer freier Journalist.“
Ein wenig hatte ihn der freundliche Rauswurf doch gekränkt, saß er doch jeden Freitag bei der Großen Konferenz der Zeit auf immer demselben Stuhl, direkt neben der Türe.
Es war der richtige Platz für ihn. Die Türe hatte man dem gelernten Buchhändler und Antiquar auch in seiner ersten Stellung, als Lokalredakteur beim Hamburger Fremdenblatt, gewiesen. Er hatte ein Gedicht mit dem Titel „Der Bettler“ geschrieben und ins Blatt gerückt, sein Beitrag zum zehnten Gründungstag der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Die Schriftleitung musterte ihn als „untragbaren Intellektuellen“ aus. Ein paar Jahre später arbeitete er als Reporter für die Welt, schrieb für den Rundfunk und seit 1953 für die Zeit.
Ein sensibler Chronist der Wirtschaftswunder-BRD Foto: W. Wiese
In St. Pauli geboren, kannte Ben Witter den Kiez wie wenig andere. Er schrieb exzellente Sozialreportagen; mit einem großen Herz für die kleinen Leute, die Nutten und die Luden, die Hafenarbeiter und die Penner, die, die im Schatten stehen: Dreigroschenopern aus der Wirtschaftswunder-BRD. Skurril schrieb er, oft ein wenig melancholisch, meist kurz, gelegentlich abgründig und schwer verständlich. Er verkörperte einen Typus des Journalisten, der kaum mehr zu finden ist, den des Flaneurs; der sich durch die Stadt treiben läßt und das beobachtet, woran die anderen vorbeieilen; denen zuhört, die keiner hören will.
In Erinnerung bleiben auch seine „Spaziergänge mit Prominenten“. Er befragte Willy Brandt, Axel Springer oder Heinrich Böll. Was war es, womit er seine Mitgänger dazu brachte, offener zu sprechen, als sie dies sonst taten? Ganz einfach: seine Menschenliebe. Am Sonntag vor einer Woche starb Ben Witter im Alter von 74 Jahren in Hamburg an einem Herzschlag. Keep on walking, Ben. Michael Sontheimer
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