Das Portrait: Ältester Mensch der Welt gibt Titel ab
■ Jeanne Calment
„Der liebe Gott hat mich vergessen“, sagte Jeanne Calment, als sie mit 114 Jahren die älteste lebende Französin wurde. Als sie mit 120 Jahren die älteste (soweit bekannt) Erdenbürgerin wurde, wiederholte sie den Satz. Gestern vormittag erinnerte der liebe Gott sich dann doch und holte sie im zarten Alter von 122 Jahren und sechs Monaten in der brütenden Augusthitze ihres provenzalischen Heimatstädtchens Arles ab.
Außer einem Fußgelenkbruch, als sie vor über 60 Jahren in Rente ging, war Jeanne Calment „nie krank“, versicherte sie selbst den Journalisten, die sie in den letzten Jahren ihres Lebens besuchten. Auf Wunsch sang sie ihnen auch die Marseillaise vor (ihr dünnes Stimmchen wurde auf mehrere Rap-CDs gepreßt), erledigte einfache Rechenaufgaben, erzählte, wie „unsäglich häßlich“ Vincent van Gogh gewesen sei, dem sie einst Farben verkaufte, und ließ sich bereitwillig für die zahlreichen Filme schminken, die über sie gedreht wurden.
Jeanne Calment war ein Phänomen. Und jeder zusätzliche Tag, den sie lebte, bedeutete einen neuen Rekord. An ihrem Geburtstag, dem 21. Februar, waberte regelmäßig das Wort „Unsterblichkeit“ durch die Medien, und Gerontologen aus aller Welt interessierten sich für ihre Befindlichkeit. Wieviel die alte Dame selbst von dem Zirkus mitbekam, ist fraglich. Zwar genoß sie bis vor drei Jahren täglich ein Gläschen Porto und zwei Zigaretten, bewahrte bis zuletzt ein spitzbübisches Lächeln und wechselte täglich von ihrem Bett in den Rollstuhl, doch konnte sie fast nichts mehr sehen und war beinahe taub. Ihr letzter Zugang zur Außenwelt war ein Hausarzt, der ihr die fremden Anliegen laut ins rechte Ohr rief und meist auch ihre Antworten für die Besucher „übersetzen“ mußte.
Jeanne Calment hat alle überlebt. Nicht nur die 700 Millionen Zeitgenossen aus ihrem Geburtsjahr 1875, nicht nur 18 französische Präsidenten und einen Japaner, der vor ihr den Titel des Weltältesten hatte, sondern auch den Notar, der ihr 1965, als sie 90 war, ihre kleine Wohnung gegen eine Leibrente abkaufte, sowie sämtliche Verwandte. Erben hinterläßt sie nicht. Dafür aber Gene. Die befinden sich schon lange in Forschungslabors, wo Wissenschaftler versuchen, das Geheimnis zu Jeanne Calments Langlebigkeit zu knacken. Dorothea Hahn
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