Das Portrait: Polens Stimme des Gewissens
■ Jerzy Turowicz
Wenn die größte Tageszeitung eines Landes dem Chefredakteur eines katholischen Blattes die ersten acht Seiten widmet, ist nicht einfach nur ein Journalist gestorben. Jerzy Turowicz war einer der führenden Intellektuellen Polens. Für Adam Michnik, einen der berühmtesten Oppositionellen Polens in der Zeit der Volksrepublik, ist mit Turowicz „die Stimme des polnischen Gewissens“ gestorben. Der Publizist prägte die geistige und politische Atmosphäre Polens wie kein anderer.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gründete er die katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny. Sie wurde zu einer Oase des freien Denkens in einer zensierten Presselandschaft. Fast alle berühmten Intellektuellen der Welt haben im polnischen Tygodnik diskutiert. Denn dies war das Anliegen des tiefgläubigen Turowicz: Brücken zu bauen zwischen geistigen Welten. Auch Turowicz mußte sich bis 1989 der Zensur beugen, doch er war so konsequent, die zensierten Stellen zu kennzeichnen. Manchmal allerdings wurde ein ganzer Artikel gestrichen – dann blieb eben die Titelseite leer. Dieser publizistische Mut machte aus Turowicz schon zu Lebzeiten eine Legende.
Der marxistische Philosoph Leszek Kolakowski bezeichnet ihn genauso als seinen Lehrer wie Papst Johannes Paul II., der als junger Mann im Tygodnik debütierte. Turowicz hat um den Tygodnik und seine berühmten Autoren schwer kämpfen müssen. Immer wieder beschnitt die Partei die Papierzuteilung, für drei Jahre wurde das Blatt verboten.
Doch auch die katholische Kirche kam mit dem unbestechlichen Beobachter und engagierten Laien nicht immer klar. Von manchem Kleriker schlug ihm unverhohlene Verachtung entgegen. Der Tygodnik nämlich war und ist bis heute das einzige Blatt in Polen, das sich auf hohem intellektuellen Niveau mit den schwarzen Flecken in Polens Geschichte auseinandersetzt. Die Debatte um den Antisemitismus in Polen brachte ihr den Schimpfnamen „Zydownik“ (Judenblatt) ein. Aber auch „U-Boot“ wird die Redaktion des Tygodnik des öfteren genannt – früher als alle anderen hatten sich Turowicz und seine Autoren um die Aussöhnung mit den Deutschen und später mit den Ukrainern bemüht. Turowicz starb vergangene Woche im Alter von 86 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts. Gabriele Lesser
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