■ LESETIPS: Das Mittelmeer
„...ist ein Mosaik aus tausend Freveltaten“ und hat seine Bewohner nie ausreichend ernährt: „zuviel Mühe, zuwenig Gewinn“. Erkenntnisse wie diese, brillant vorgetragen und überzeugend begründet, vermittelt ein Standardwerk, verfaßt von einer Reihe bedeutender Autoren: Fernand Braudel, Georges Duby, Maurice Aymard: Die Welt des Mittelmeeres — Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1987).
Dieses Werk liefert eine nützliche Grundlage für das Verständnis von Geschichte und Gegenwart vor allem des westlichen Mittelmeerraums. Warum beispielsweise orientieren sich die meisten Menschen auf den Balearen, auf Korsika, Sardinien und Sizilien so auffällig ins Innere ihrer Inseln, statt Fische zu fangen oder Seefahrt zu betreiben? Weil das Mittelmeer stets arm an Nahrung, aber mit Stürmen und Piraten reich an Gefahren war. Touristen haben letztere abgelöst.
Wer tiefergehende Einblicke in insulare Verhältnisse will, dem seien einige Lesetips gegeben. Nicht von Reiseführern, deren Informationsgehalt nur allzu oft den von Pospekten nicht überschreitet. Ehrlicher als ihre Kollegen von heute sein dürfen, waren die Rechercheure, die im 19.Jahrhundert unterwegs waren, um den Bildungsreisenden das Terrain zu sondieren. Gründlicher waren sie obendrein, als viele ihrer jüngeren Epigonen.
Das gilt zumindest für einen Historiker von Format, den Ostpreußen Ferdinand Gregorovius. Seine Geschichte Roms hat ihm 1876 die Ehrenbürgerschaft der ewigen Stadt eingebracht. Sein Werk Korsika — Historische Skizzen und Wanderungen im Jahre 1852 (neue Auflage im Societäts-Verlag, Frankfurt/ Main 1988) war ein Publikumserfolg. Zu Recht: Eine derart bunte Mischung von streng wissenschaftlich recherchierten und reflektierten Fakten, durchsetzt mit lebendigen Erlebnisberichten, reißt verwöhnte Leser von Kuriosa genauso mit, wie die an seriösen Informationen Interessierten.
Der gesellschaftliche Fortschritt scheint besonders lange gebraucht zu haben, bis er Sizilien erreichte. Das behauptet jedenfalls eine junge Sizilianerin in ihrem 1989 erstmals in Italien erschienenen autobiographischen Erstling. Lara Cadella: Ich wollte Hosen (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1990). Selbst wer Italiener ohnehin als Machos ansieht, wird noch überrascht; genauso wie jene, die in Italienerinnen nur Dulderinnen vermutet. Das Buch ist sicher keine literarische Offenbarung, aber seine Glaubwürdigkeit gewinnt durch die ungekünstelte Alltagssprache.
Durch seine literarische Raffinesse besticht hingegen ein Kriminalroman, der auf Sardinien handelt: Salvatore Mannuzzu: Der Fall Valerio Garau (Carl Hanser Verlag, München und Wien 1991, 273Seiten). In diesem äußerst spannenden Kriminalroman wird die Insel selber scheinbar gar nicht porträtiert — aber gerade weil sie als Kulisse für die Handlung ganz selbstverständlich präsent ist, wird sie den Lesern nahegebracht. Auch die Handlung überzeugt, weil es dem Autor nicht nur um den Unterhaltungswert geht. Der sardische Jurist Mannuzzu seziert die Oberschicht seiner Heimatinsel, um die zerstörerische Verlogenheit überkommener Gesellschaftsstrukturen freizulegen.
Wer einen Einblick in überkommene Gesellschaftsstrukturen um 1492 bekommen will, dem sei ein Lesebuch mit kurzen Schilderungen über das damalige Europa und das neu entdeckte Amerika empfohlen: 1492 - Die Welt zur Zeit des Kolumbus (Beck'sche Reihe, München 1992).
Zum Fall von Granada, dem anderen historischen Erreignis von 1492, zwei lesenswerte historische Romane, die Glanz und Elend der Mauren relativ ideologiefrei wiedergeben: Eberhard Cyran: Abend über der Alhambra (Eugen- Salzer-Verlag, Heilbronn, 1991); Amin Maalouf: Leo Africanus (Nymphenburger Verlagsanstalt, 1988).
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